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January 10, 2023
Incontrare Südtirol begegnen: Sieglinde
Daniela Caixeta Menezes
Der Weg zu Sieglinde erfordert Mut und Durchhaltevermögen – zumindest für jemanden, der im Flachland Autofahren gelernt hat. Und in gewisser Weise ist das eine gute Metapher für das Leben meiner Gesprächspartnerin, die von beidem eine große Portion benötigt hat, um oben anzukommen.
Aber der Reihe nach.
Als ich einige Serpentinen und Höhenmeter später schweißgebadet auf den Hof fahre, kommen mir eine temperamentvolle Hündin mit kurzem, schwarzem Fell und eine gut gelaunte Sieglinde entgegen. Dass die Dreiundfünfzigjährige wie jeden Tag schon seit halb 5:00 auf den Beinen ist, wie sie mir später erzählen wird, das ist ihr weder anzusehen noch anzumerken.
»Gerade seine Vielfalt macht Südtirol zu dem, was es ist: nämlich einfach ein schönes Land zum Leben.«
Flinken Schrittes führt sie mich zunächst durch den warmen Stall, wo acht Kuhaugenpaare auf mich gerichtet sind und zufrieden muhen. Und dann entdecke ich noch die zwei Kälbchen und zwei Esel, was mein romantisierendes Städterinnenherz vollends zum Überlaufen bringt. Hach, vielleicht sollte ich auch endlich die urbane Hektik verlassen und mich in der ländlichen Idylle niederlassen?
Wie wenig Idylle tatsächlich in Sieglindes Alltag steckt, werde ich noch erfahren – ganz zu schweigen davon, dass ich nicht weiß, wann ich zum letzten Mal um halb fünf aufgestanden bin und dabei so frisch-vital ausgesehen habe.
»Was ich heute bin, habe ich dem Hof zu verdanken.«
Weiter geht die Tour, erst zu den vier Zieglein (was riecht das herrlich!) und einer Schar Hühnern samt Hähnen, die neugierig an unseren Fingern picken, bevor ich endlich einen Blick – aus Hygienegründen nur durch eine Scheibe – auf die Käserei erhaschen darf. In absoluter Sterilität glänzt ein Equipment im Wert eines prestigeträchtigen Neuwagens. Oder großer Urlaube, die dementsprechend nicht stattgefunden haben; nach gut 17 Jahren waren sie kürzlich zum ersten Mal mit den beiden ältesten Kindern für ein paar Tage in der Schweiz.Die prämierte Bäuerin Sieglinde warnt vor einem Kipppunkt im Tourismus und mahnt zu mehr Nachhaltigkeit.
Was hat dich dahin gebracht, wo du heute bist?
Die Käserei habe sie selbstbewusst gemacht, sagt Sieglinde, während sie mir ein Stück des mittelalten Rebell abschneidet. Ist der Name Programm? Früher sei sie leicht zu beeinflussen gewesen, bis sie eines Tages der Mut gepackt und sie sich bewusst für ihr neues Leben als Bäuerin und Käserin entschieden habe. Für den Sprung ins Ungewisse. Das zahle sich nun aus: „Wie ich heute bin, habe ich dem Hof zu verdanken.“
Bei selbstgebackenem Mohnkuchen und Holunderschorle sitzen wir dann in Sieglindes blitzblanker Küche, an der Wand hängt eine Urkunde der Südtiroler Bäuerinnenorganisation und der Stiftung Südtiroler Sparkasse: Sieglinde ist Bäuerin des Jahres, eine vorbildliche Landwirtin. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Auszeichnung will sie sich aber auch rausnehmen, weiterhin kritisch sein zu dürfen, gewissermaßen qua Amtes. Staatliche Förderungen sind so ein Thema, das sie und viele andere ihrer Zunft umtreiben. Die brächten allzu häufig nämlich auch umfangreiche Auflagen mit sich, die paradoxerweise das Überleben eines landwirtschaftlichen Betriebes insgesamt gefährden können, erklärt Sieglinde. Womit wir bei der Entzauberung des vermeintlichen Idylls angelangt wären. Gut gemeint ist eben nicht automatisch auch immer gut gemacht.
Vieles will sie hier deshalb ohne Zuschüsse umsetzen, wie zum Beispiel den Umbau des Stalles, damit ihre Kühe mehr Platz haben. Auch das ist ein Ausdruck ihrer Courage. Sieglinde, die selbstbewusste Self-Made-Frau, scheut sich nicht davor, auch mal anzuecken, um den eigenen Überzeugungen treu zu bleiben.
»Ich sehe jeden Menschen als Menschen und lasse ihn Mensch sein.«
Und Überzeugungen haben Sieglinde und ihr Mann Heinrich viele, denen sie ihre gesamte Energie und Leidenschaft widmen. Im Englischen gibt es dafür den treffenden Ausdruck: going the extra mile. Als ein alteingesessener Hof zum Verkauf stand, sind sie im wahrsten Sinne des Wortes allwöchentlich ein paar Meilen dorthin gepilgert, um ihr großes Interesse daran zu bekunden. Neben den Tieren und den Milchprodukten bauen die beiden heute auch alte Sorten Getreide an. Das ist ihr Beitrag für ein nachhaltiges Südtirol, das ihnen am Herzen liegt.
Und so verwundert es auch nicht, dass die Unternehmerin Sieglinde zum Abschied mahnende Töne anschlägt und zu einem Umdenken in einer vom Tourismus stark geprägten Region aufruft: Mehr Qualität und Maß, statt der Verlockung eines „Immer Mehr“ zu verfallen; Traditionen und Zusammenhalt bewahren, ohne sich dem Neuen zu verschließen.
Wovon träumst du, Sieglinde?
Sieglindes Wünsche für ihre Heimat sagen gleichzeitig auch viel über sie selbst aus, darüber, wer sie ist und was ihre Träume für die Zukunft sind: „Ich sehe jeden Menschen als Menschen und lasse ihn Mensch sein.“ Gerade die Vielfalt Südtirols mache dieses Fleckchen Erde zu dem, was es ist: nämlich einfach ein schönes Land zum Leben. Wo ihre Kinder den Hof und die Käserei gesund und glücklich weiterführen können. Wo sie alt werden könne und wolle. Aber gerade sei ein gutes Alter, verkündet sie zum Abschied grinsend und läuft – wie zur Untermauerung – mit ihrem flinken Schritt zurück in den Stall.
Ich nehme einen letzten Atemzug der klaren Bergluft und lasse den Blick über die imposanten, schneebedeckten Gipfel wandern, bevor ich mich auf den Weg zurück ins Tal mache. Im Gepäck 200 g Rebell und einen Rest vom Mohnkuchen, sozusagen als Mutmacher für die beschwerliche Abfahrt.
Fotos: Daniela Caixeta Menezes
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