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July 6, 2023

„Blau geht aus dir raus, rot geht in dich rein”

Lena Pernthaler

Wenn ich Texte schreibe, ist mir eines besonders wichtig: der rote Faden. An der Türschwelle zum Atelier des Künstlers Raphael Mur gebe ich den Faden ab. Zum einen, weil ich nach der Vorbereitung auf das Gespräch glaube, dass er gut mit Rot kann, zum anderen, weil ich gerne von den roten Fäden in der Lebensgeschichte anderer höre. So sitzen wir in der Brixner Dachgeschosswohnung, die Kunstschaffraum und Wohnung zugleich ist und durch die offenen Fenster von einer leichten Sommerbrise durchweht wird. Raphael beginnt zu erzählen.

Der rote Faden mit der Kunst beginnt in seiner Kindheit. Raphael erinnert sich an das Wohnzimmer seiner dänischen Oma, die wunderschöne schwedische Keramiken in den Schränken stehen hatte. „Moment – “, sagt er und holt mit größter Vorsicht eine weiß-graue schwedische Keramik-Eule aus einem viel bestückten Regal. „Die erklärt Vieles”, sagt er, „sie ist das Schönste, was ich je gesehen habe.“ Die schwedischen Keramiken, die Schönheit, die Kunst waren in Raphaels Augen damals ein bisschen wie „die Royals“ – ferne Faszinationsobjekte. Bis er seine erste wirkliche Begegnung mit der Kunstwelt hatte: Als Raphael 16 Jahre alt ist, kommt der albanisch kosovarische Maler Dalip Kryeziu durch eine gemeinsame Bekanntschaft ins Elternhaus nach Aicha und begutachtet seine Zeichnungen und Bilder. „Dalip hat gesagt, ich soll zu ihm kommen, wenn ich ready bin,“ erzählt er, „bis ich zu Dalip kam, verging mehr Zeit als erwartet.”Raphael Mur_(Image_Florian Dariz 2020)Zuerst waren Oberschule, Basketball und Skaten dran – aber der Drang zum Zeichnen war immer da – vor allem, wenn es ihm langweilig war. Er besucht das humanistische Gymnasium „Walther von der Vogelweide“ in Bozen und wohnt im Heim. Die Studienzeit am Nachmittag verbringt er vor allem in der Bibliothek, in dieser Zeit liest er viel, verschlingt Lexika, prägt sich die Bilder neben den Texten ganz genau ein. Vor der Matura kommt Raphaels Kunstlehrer Erwin Lantschner mit einem lieb gemeinten Rat zu ihm: „Du musst unbedingt was mit Kunst machen!“ Nach der Matura dann erstmal großes Verlorensein: „Ich hab es mir nicht zugetraut, irgendwas mit Kunst zu machen, aber ich wollte in ihrer Nähe sein.“ So hilft er bei Kunstausstellungen mit, wie beispielsweise bei Transart und Panorama4

Mit 22 Jahren wagt er sich noch näher an die Kunst heran; er bewirbt sich an der Akademie der Bildenden Künste in München und wird angenommen. „Ich habe echt schnell gemerkt: krasser Shit! Die Logik darf an so einem Ort ausgeklinkt sein und das habe ich genossen,” erzählt er. Seine Augen strahlen. Zwei Jahre lang besucht Raphael die Klasse der deutschen Malerin Karin Kneffel, in seinen Worten eine „Grande Dame“ und eine harte Schule. Und wieder kommt in ihm das Gefühl auf, die Kunst sei so wie Royalty, royale Beschäftigung, Verklärung. Er sehnt sich nach einem realistischeren Blick und verlässt die Akademie. 

Und dann kommt der Künstler Dalip zurück ins Spiel – eine Schlüsselfigur in Raphaels Leben, eine zentrale Faser im roten Lebensfaden. Der Moment war gekommen, um von dem Künstler zu lernen. Raphael verbringt längere Schaffensphasen bei dem albanisch-kosovarischen Künstler, der aus dem Kosovo-Krieg geflohen ist und jetzt in Deutschland lebt. Raphael hilft Dalip in seinem Atelier, der Künstler ist sein erster Draht in diese Welt und seine erste authentische Erfahrung, die auch ihre Tücken hat. Dalip lebt in anderen Größenordnungen, erschafft 1,50 Meter große Skulpturen und verkauft sie morgens um 8:00 Uhr für 45.000 Euro, während er sein Müsli isst. Der Künstler lehrt ihn, dass es der Ton ist, der es ausmacht, ob man verkauft. „Das kostet 16.000!“ – Es soll klingen wie ein Schnäppchen, wie das Normalste der Welt. „Wenn du es anders sagst, klingt es wie eine Lüge.” Toxic Raphael Mur„Gibt es für dich so etwas wie wahre und gelogene Kunst?“, frage ich dazwischen. 
Raphael findet es lustig, wenn die Leute anfangen, sich über diese Frage zu  unterhalten. „Eigentlich ist alles geil, wenn es etwas auslösen kann: Ekel, Angst, ein großes Fragezeichen – so etwas amüsiert mich auf euren Gesichtern.“ 
„Du willst mit deiner Kunst also nicht unbedingt gefallen, oder? – Was ist dann dein Anspruch an die Kunst?”, frage ich weiter.
„Ich habe keinen Anspruch. Ich will auch keinen haben. Ich habe nur meine Prägung – das ist alles Bildmaterial, was ich jemals als gut empfunden habe, zusammengesaugt. Dabei komme ich nicht aus der Fremdwahrnehmung,“ antwortet Raphael. „Für mich ist Kunst, wenn ich sie mache, pure Selbstwahrnehmung.“ „Also kein Dialog?”, werfe ich ein.  
„Dialog?”, fragt er verdutzt. „Überhaupt nicht! Es ist ein absoluter Monolog! Doch die Ganzheit, die durch sich selbst resultierende Entität eines Bildes, das, was am Ende an der Wand hängt, muss zumindest klatschen!”
„Wer muss klatschen?”, hake ich nach, „das Bild oder das Publikum?” 
„Welches Publikum?“, fragt er zurück. 

Wir haben ein bisschen den Faden verloren. Raphael holt ihn zurück und erzählt von der Zeit nach Dalip. Er kehrt damals zurück nach Südtirol und erlebt seinen ersten richtigen Downfall. Er probiert sich als Künstler und beschreibt es als „Scheitern“. Aus dieser Zeit zieht er jetzt seine Lehren – er kommt zu dem Schluss, dass es für alle großen Geister einen Tiefpunkt gibt, der ihren Kopf klärt, weil wir uns ja ständig mit Unwichtigkeiten beladen. Nach einem Jahr Ups and Downs, seinem ersten (richtigen) Bildverkauf und der Mitarbeit bei dem venezianischen Künstler Marius Balducci in Bozen spürt er: Er muss wieder normal arbeiten, ein Gleichgewicht zwischen den Welten schaffen und regelmäßig Geld verdienen. Beim Meistermaler in Vahrn schließt er mit 25 die Ausbildung zum Maler und Lackierer ab. Als er da zum ersten Mal aufkreuzt, glauben sie ihm fast nicht: „Du warst auf der Akademie und jetzt bist du da???” Raphael betitelt die Zeit als „große Prüfung”. Große Wände, große Museen – das war sein „Big Dream”. Dennoch kehrt er zurück zu den Wurzeln, geht handwerklich Wände malen, arbeitet vier Jahre im Malerbetrieb. Heute ist er stolz darauf, denn er hat Leute kennengelernt, die man in der Kunst-Bubble nie zu sehen kriegen würde, die einem Sachen beibringen, von denen man in den großen Universitätssälen nie hören würde. Die Haltung der Baustelle ist heutzutage immer noch seine Haltung beim Malen: „Mehr ist immer besser, höher ist immer geiler, weiter ist immer spektakulärer.” 

Und dann kommt Corona: für Raphael der „Himmel auf Erden“ – Zeit und Muse im Überfluss. Er hört auf zu arbeiten, kauft Farben und Leinwände für Tausende von Euro ein und geht in die Isolation. In dieser Zeit entstehen seine roten Bilder, die Werkzyklen „Rote Zone“ und „Dark Øtzi”. Er bringt seinen ersten selbst publizierten Katalog heraus. Das 1,40 m große Gemälde „AWAKE” mit dem Mann aus dem Eis wird vom Südtiroler Archäologiemuseum angekauft – ein Meilenstein.O.T. 2020 - Raphael Mur„Hast du noch Fragen?”, fragt Raphael nach.  
„Warum rot?”, frage ich und zeige auf das große rote Bild, das von der Wand schreit. Ich habe das Gefühl, die Farbe lässt uns heute nicht mehr los. 
„Rot ist eine provokative Farbe, Signalfarbe, die Frucht ist reif und der Rubin ist wertvoll. Blau geht aus dir raus, rot geht in dich rein”, schwärmt er von der Farbe, wie es nur ein Künstler kann. 

Machen wir einen Knopf in den roten Faden – Wer ist Raphael heute und wo will er hin? Vor mir sitzt ein 30jähriger Künstler, der vor Ideen und Schaffenslust sprüht und nebenbei einem geregelten Job nachgeht. Raphael hat seinen Platz in der Kunstwelt gefunden: Derzeit bereitet er eine Einzelausstellung mit der Galerie Spazio Arte Petrecca in Isernia, Molise, für Mitte Juli 2023 vor. Er arbeitet mit der Kunstgalerie PASHIM ART in Hamburg zusammen, eine Ausstellung in China ist in Planung. In seinem ehemaligen Gästezimmer entsteht ein Sound Studio – die Musik ist seine erste Passion. Auch die künstliche Intelligenz fasziniert ihn und ein Projekt mit lebensgroßen Visuals, die mit Beamern auf die Wand projiziert werden, soll entstehen.

Wandel ist für Raphael nichts Schlimmes. Er fährt „gerne im Zickzack, aber immer nach vorne.” Er will sich nicht festlegen und liebt das Konzept des Gesamtkunstwerks. Eines will er wie einen roten Faden durch all seine Werke ziehen: „Den Geist der unbedingten Freiheit.”

Fotos: (1, 3, 4) © Raphael Mur; (2) © Florian Dariz.

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