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September 18, 2023

„… in ihrer ganzen ambivalenz und komplexität …“ – Cornelia Hülmbauer, Tumler-Literaturpreis-Nominierte

Eva Rottensteiner

Land ist, wo ein Kalender mit nackten Frauen an der Werkstattwand hängt.

Land ist, wenn an Allerheiligen am Friedhof geschossen wird.

Land ist, wo man sexuelle Aufklärung mit Stecker und Buchse erklärt.

Land ist, wenn man für die Eltern Zigaretten kaufen gehen kann.

Land ist, wo der Kfz-Mechaniker einem die Haustür knackt, wenn man als Kind den Schlüssel vergessen hat.

Cornelia Hülmbauer erzählt in „oft manchmal nie“ von ihrer Kindheit am niederösterreichischen Land und verzichtet dabei nicht nur auf die Groß-Klein-Schreibung, sondern auch auf die rosa Brille der Nostalgie. Denn, guess what, früher war nicht alles besser. Wer „oft manchmal nie“ liest, spürt das auch, etwa wenn der Vater Geldsorgen hat, weil alle in der Stadt kaufen, wenn einem der Junge in der Klasse zwischen die Beine greift und sagt, er kauft einem den Ring, wenn er groß ist, oder wenn die Mutter sagt, Heimat heiße was anderes als die eigenen Familienmitglieder.

In einer unsortierten Diashow von Erinnerungen erzählt Cornelia Hülmbauer, wie die Kinder jeden Schritt der Eltern beobachten und versuchen, aus komischen Normen wie Geschlechterrollen schlau zu werden. Manchmal lustig, dann wieder brutal zeigt „oft manchmal nie“ ungeschönt, wie es ist, in unserer Gesellschaft vom Kind zur Frau zu werden. Ein Buch mit vielen alten (Sprich-)Wörtern, die man auch in Südtirol kennt. Regt zum Nachdenken über die Relevanz des sich Erinnerns an und zeigt, dass man dabei nicht immer ein gutes Gefühl haben muss.

Wir haben mit Cornelia vorab gechattet:

ich schreib mal meine erste frage gleich ohne großschreibung, weil ich das lästig finde beim chatten. warum hast du das eigentlich in deinem roman gemacht?

Cornelia Hülmbauer: ah, das find ich gut, ich dachte nämlich im vorfeld schon, für das interview muss ich mich zusammenreißen und mich an die groß- und kleinschreibung halten. die entscheidung für die durchgängige kleinschreibung im roman war dementsprechend auch eher eine nicht-entscheidung – es war einfach der „normale“ modus für mich. das liegt vielleicht auch daran, dass ich ja aus der lyrik komme und es dort verbreiteter und mir dadurch noch naheliegender ist. interessanterweise war es auch so, dass es im verlag niemand kommentiert hat und mir erst seit erscheinen des buches, durch die rückmeldungen von leser*innen, überhaupt bewusst geworden ist, dass das vielleicht auch als etwas außergewöhnliches oder markiertes gesehen werden kann.

spannend, wir haben in der südtiroler literaturgeschichte einen recht bekannten, aber zuletzt auch viel diskutierten schriftsteller, der ebenfalls alles kleingeschrieben hat (joseph zoderer). Ist uns also nicht unbekannt. im wochenmagazin falter hat das wer als „progressive“, anti-konventionelle haltung bezeichnet mit verweis auf jelinek und die wiener gruppe. gab es am land platz fürs rebellischsein?

ja, das fand ich auch interessant, dass die kleinschreibung schon (bzw. noch immer) reicht, um formal als radikal gelesen zu werden. das finde ich per se natürlich nicht schlecht, zumal ich subtil subversive elemente ja auch bewusst in den text gewebt habe, aber es hat mich dann doch überrascht.
vielleicht gab es den platz für rebellion, hätte es ihn gegeben, es ist ja sehr individuell, wie man die dinge wahrnimmt und wie man sich zu ihnen verhält. ich habe ihn als kind nicht als einen platz wahrgenommen, den ich hätte einnehmen, für mich beanspruchen können, und das wollte ich auch anhand meiner protagonistin zeigen. dabei geht es ja nicht nur darum, woher man örtlich kommt, sondern auch um fragen von familienstrukturen, genderrollen, klassenzugehörigkeit, größerem sozialen umfeld usw.

oh ja, ich finde diese position der protagonistin war sehr gut rauszulesen. dazwischen gab es aber immer wieder stellen, wo die protagonistin sehr rebellische fragen gestellt hat, z. b. „legen alle töchter ihre finger in die klammermaschine (…) aus trotz?“. Diese stellen werden im laufe des romans auch immer gewaltvoller, z. b. „fallen alle töchter die treppe ihres elternhauses runter, wenn sie zu schnell laufen?“ oder „schlagen alle mädchen ihren kopf gegen den tisch, bis es blutet?“. warum diese einschübe zwischen den leichteren kindheitserinnerungen?

erstmal bin ich mir nicht sicher, ob die erinnerungspassagen alle eine leichtigkeit haben. das wird interessanterweise und schönerweise von unterschiedlichen leser*innen unterschiedlich wahrgenommen. aber formal ja, der duktus ist natürlich ein eher gleichförmiger und ergibt dadurch vielleicht auch eine art flow. ebendiesen wollte ich immer wieder unterbrechen, irritationsmomente schaffen mit den fragen. es ging mir auch darum, implizit erinnerungsprozesse nachzuvollziehen und zu hinterfragen. wir neigen ja dazu, erinnerungsfragmente in sinnvolle zusammenhänge zu bringen, vielleicht zu glätten – dem wollte ich etwas entgegensetzen. inhaltlich war es mir zudem auch wichtig, gewisse konflikte, die es im aufwachsen mehr oder weniger stark wohl bei jedem gibt, für die protagonistin in ihrer rolle in diesem umfeld eben sehr stark, hie und da deutlicher aufblitzen zu lassen, während sie im alltag, und damit im fluss des restlichen buches, eher klein gehalten sind und sich nur andeuten.

ich würde auch nicht sagen, dass die erinnerungspassagen alle eine leichtigkeit hatten. gerade als jemand, der am land aufgewachsen ist und damit nicht nur gutes verbindet, spürt man im laufe des romans immer wieder, dass du einen blick hinter die kulissen der heilen heidiwelt zeichnest. Sei es der omnipräsente katholizismus, übergriffige buben in der schule oder die geldprobleme der familie, weil alle nur mehr in der stadt einkaufen. war das auch ein bisschen ziel, ein ungeschöntes bild vom land zu zeichnen, in dem früher nicht alles besser war?

hm, das finde ich gar nicht so leicht zu beantworten. ein ziel war es jedenfalls, eine welt abzubilden, die ich einerseits in der literatur (die mir bekannt ist), nicht wirklich repräsentiert gefunden habe, in ihrer ganzen ambivalenz und komplexität, und die andererseits eben für sich selbst auch im verschwinden/vergessen begriffen war/ist. ich weiß nicht, wie viel das mit dem topos landleben an sich zu tun hat. vielleicht insofern, als gewisse themen noch prominenter werden, wenn man sie aus einem kontrast heraus liest. der text ist aber eben auch stark durch seine zeitliche gebundenheit geprägt, durch den strukturwandel (eine gegenläufige gleichzeitigkeit, wenn man so will), der sich damals in den 1980er und -90ern vollzogen hat.

ja, als landkind und junge frau aufgewachsen in den 90er jahren hab ich mich an vielen stellen auch sehr abgeholt gefühlt. da ist mir auch aufgefallen, wie viel ich schon wieder vergessen habe. hattest du beim schreiben strategien, um dein erinnern zu stimulieren?

das war einfach ein ganz intuitives sammeln von bildern, die ich mir immer mal wieder zur späteren bearbeitung notiert habe, zum großteil kein bewusstes kramen nach erinnerungen. das mag vielleicht paradox scheinen, aber ich denke, dass das im abstand zu den dingen oft noch besser funktionieren kann. es ging mir selber im prozess manchmal so, dass ich über eine notiz zu etwas gestolpert bin, das ich dazwischen komplett „vergessen“ hatte. es ist wirklich hoch spannend, wie erinnerung abläuft. es gibt ja in der psychoanalyse die ansicht, dass man dinge erst vergessen (im sinne von loslassen) kann, wenn man sie erinnert hat. da ist, denke ich, nur ein scheinbarer widerspruch. vielleicht ist mein text in diesem sinn auch ein versuch des festhaltens und loslassens gleichermaßen. diese intuitive schreibhaltung war mir jedenfalls auch insofern wichtig, als erinnerung ohnehin weder einen anspruch auf vollständigkeit noch auf ein wahr oder falsch erheben kann. streng genommen ist jede erinnerung ja eine falsche erinnerung, eine fiktionalisierung in sich, und selbst in der wahrnehmung einer aktuellen situation ziehen verschiedene personen unterschiedliche wahrheiten daraus. der anspruch des autobiographischen macht mich deshalb auch immer etwas skeptisch – ich kann mit dem konzept der autofiktion viel mehr anfangen.

in einem anderen interview sagst du, dass der titel „oft manchmal nie“ daherkommt, dass die protagonistin sich eine ordnung wünscht, um die welt um sich besser zu verstehen. also kategorisiert sie die handlungen der erwachsenen nach häufigkeit (oft manchmal nie). ich fand, das beschreibt sehr bildhaft, wie man sich im lauf seines aufwachsens ständig an seinem umfeld orientiert und systematisch abschaut, wie die welt funktioniert und man selber darin funktionieren soll. war das so gedacht? [oder interpretier ich da zuviel haha]

genau, ich habe versucht, mich in diese kinderperspektive hineinzufühlen, und mir schien, dass die erwachsenenwelt als zeichensystem einfach wahnsinnig kompliziert und auch widersprüchlich für eine heranwachsende person sein kann. darin etwas zu finden, an dem man sich entlanghanteln kann, wie du sagst – in der interpretation wie auch im eigenen handeln – ist dementsprechend sehr wichtig. häufigkeiten schienen mir da recht bedeutsam.

weil du vorhin vom festhalten und loslassen geschrieben hast: teil des franz-tumler-preises ist ja auch ein aufenthalt im vinschgau. Auch sehr viel land dort. wär das was für dich, oder meidest du das land als (ehemaliges?) landkind mittlerweile lieber?

tatsächlich habe ich, nachdem ich das stadtleben kennengelernt und mich darin sehr wiedergefunden habe, eine weile generell abstand vom land gebraucht. das hat sich mittlerweile geändert bzw. differenziert, gerade auch durch wunderbare schreibaufenthalte an teilweise recht entlegenen orten. ich schätze nun land und landschaft und alles, was das an positivem mit sich bringt, auch sehr. aber gerne dort, wo es nicht mit so viel erinnerungsarbeit verknüpft ist.

sehr gut, dann drücken wir dir die daumen, dass das mit dem vinschgau-aufenthalt klappt ; )

: ) danke!

Cornelia Hülmbauer, geboren 1982 in Niederösterreich, Studium der Anglistik und Kunstgeschichte in Wien und Malta sowie der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien, Promotion über europäische Mehrsprachigkeit. Zahlreiche Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Zeitschriften und Anthologien. 2018 erschien ihr Lyrikdebüt „MAU OEH D“ bei Sukultur, Berlin. 2016 war Cornelia Hülmbauer Finalistin beim open mike, 2018 erhielt sie den Theodor-Körner-Preis, „oft manchmal nie“ ist ihr erster Roman, Auszüge daraus wurden mit dem Marianne-von-Willemer-Preis 2021 und dem Emil-Breisach-Preis 2021 ausgezeichnet.

 

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