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May 6, 2020

15_Andreas Pfeifer – Eine „neue Normalität“ wird es nicht geben

Susanne Barta

 Dieses Projekt ist aus einem Gespräch mit meiner sehr geschätzten Künstlerin-Freundin Gabriela Oberkofler entstanden. Es sind Momentaufnahmen aus dem Corona-Alltag von Menschen, die mir in dieser Zeit in den Sinn gekommen sind und die aus unterschiedlichen Perspektiven beschreiben, was sie beobachten. In einem zweiten Moment einige Monate später, werden sie ausführen, wie sich „Nach-Corona“ anfühlt und was sie nun beobachten. Begleitet werden die Aufzeichnungen von Gabrielas Zeichnungen und dem für mich sehr passenden Zitat von Karl Valentin. 

 

Der Bozner Andreas Pfeifer war viele Jahre lang Italien-Korrespondent des ORF, er hat aus Washington berichtet und ist seit 2007 außenpolitischer Ressortleiter im aktuellen Dienst des ORF-Fernsehens. Ich schätze seine journalistische Arbeit sehr. Eine gewisse Gelassenheit, genaue Analyse und fein abgestimmter Humor zeichnen seine Berichterstattung aus.

Andreas Pfeifer Foto_1

Aufgezeichnet am 28. April 2020

Man hat doch in dem Trubel, in dem wir uns immer wieder aufgehalten haben, gerne die ein oder andere Rückzugsphantasie genährt: „Ich kümmere mich um mich, ich kümmere mich um das, was mir essenziell erscheint“. Jetzt ist uns die Isolation durch dieses Viren-Phänomen aufgezwungen worden. Ich habe mich in den letzten sechs Wochen tatsächlich in einem annährend totalen Rückzug befunden und konnte mich dieser tendenziellen Misanthropie, die ich immer schon gepflegt habe, hingeben.

Ich habe festgestellt, dass ich einen völlig anderen Tagesrhythmus habe. Meine beruflichen Aufgaben sind schnell erledigt mit IPad, IPhone, PC, Laptop und Whatsapp. Da kann man sehr schnell Kommunikation abwickeln, auch ein wenig unter Aussparung der Widerrede der Betroffenen. Und dann habe ich einiges gemacht, das neu war: Ich habe Sitzungen, über die ich mich geärgert habe, abfedern können, durch eine Runde Klavier spielen gleich anschließend. Ich konnte täglich meine 10.000 Schritte machen, wie der Panther im Käfig bin ich durch Wien gewandert. Allerdings unter besseren Voraussetzungen als in Südtirol: Ohne Maske, ohne Passierschein und ohne Polizeikontrollen. Und ich konnte Bücher lesen, die ich immer schon lesen wollte. Sie haben einen sehr interessanten Zusammenhang hergestellt zu dieser Gegenwart, die uns ja neu ist und die wir alle miteinander erleben. Gelesen habe ich „Die Welt von gestern“ von Stefan Zweig, es beschreibt den Abschied von Gewohntem und das Heraufziehen neuer, auch bedrohlicher, totalitärer, rechtsstaatlich bedenklicher Phänomene. Das zweite Buch war „Die Pest“ von Albert Camus, er zeichnet darin ein existenzialistisches Bild aus der Situation eines Belagerungszustandes. Auch hier geht es um Totalitarismus, aber auch um das Leben mit einer Krankheit, mit der wir irgendwie umgehen müssen. Und jetzt lese ich gerade „Serotonin“ von Michel Houellebecq. Er erzählt von jemandem, der sich von allen Sozialkontakten, von denen er ohnehin nicht viel gehalten hat, total zurückzieht in die radikale Vereinsamung. Mit diesen drei Büchern, die so eine eigenartige Perspektive auf unsere Gegenwart liefern, habe ich diese Wochen also zugebracht. Ich möchte dazu sagen, dass ich diese sehr bemerkenswerte Zeit aus einer privilegierten Warte erlebe, in einer halbwegs geräumigen Wohnung, ich habe den Job nicht verloren und bin auch nicht krank geworden. Aber ich weiß, dass es sehr viele Menschen gibt, die dieses Schicksal hart trifft. Ich spreche also als jemand, der sich Misanthropie leisten kann.

Andreas Pfeifer Foto_2

Seit über 30 Jahren beobachte ich, dass die Wirtschaft diktiert, wie man die Welt zu sehen hat. Die Wirtschaft hat sich aufgespielt, als wäre sie ein Naturgesetz, vor allem der Kapitalismus und seine neoliberalen Auswüchse. Ich bin groß geworden in einer Welt, in der sich die Politik mehr und mehr zurückzieht und den Vorgaben der Wirtschaft gehorcht. Und jetzt erlebe ich etwas, was ich noch nie erlebt habe: Innerhalb von Tagen hat sich das umgedreht und die Politik hat die Wirtschaft nicht nur eingebremst, sondern zu einem radikalen Stillstand gebracht. Das ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung gewesen, da man ja so gelebt hat, dass sich das, was die Wirtschaft sagt, im Sinne von „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“ und andere Blödsinne, umdreht. Das gilt auch für das gesamte Leben, für die Parameter, mit denen wir unser Leben führen und geführt haben, die im Hintergrund mitlaufen, und wir uns so verhalten, als wäre das selbstverständlich, weil das Leben halt so ist. Durch diese drastische Umkehrung unserer Lebensgewohnheiten, teils erzwungen, teils ausgegraben aus der eigenen Vergangenheit, haben wir gemerkt, dass sich das alles in Windeseile ändern kann und die Prioritäten dann plötzlich ganz andere sind.

Bemerkenswert ist, dass eine ganze Gesellschaft ihre Lebensgewohnheiten ändert, um eine Minderheit, die besonders gefährdet ist, zu schützen. Dass wir aus Solidarität mit älteren Menschen, die ja sonst keinen besonders leichten Stand haben in unserer Gesellschaft, drastische Maßnahmen setzen. Und das auf Basis einer bisher nach wie vor äußerst unsicheren Datengrundlage, wir wissen ja alle noch sehr, sehr wenig. Das ist ein Solidaritätseffekt, den ich nicht für selbstverständlich befunden habe.

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Am Anfang gab es viel pseudoromantische Schwärmerei, wie „Jetzt werden wir alle anders und die Welt wird gerechter und die Nationalismen werden aufhören und wir werden endlich lernen, dass man globale Probleme nur mit Multilateralismus und globaler Kooperation und nicht mit weniger, sondern mit mehr Europa löst“. Diese Schwärmereien sind schon wieder am Abklingen. Und wir merken, dass es nicht eine „neue Normalität“ gibt, wie der österreichische Bundeskanzler Kurz das immer so gerne sagt, sondern, dass die alten Mechanismen möglicherweise mit noch größerer Härte, Stichwort Verteilungskampf, wieder zurückkehren und sich die Wirtschaft meldet und uns sehr schnell wieder zu ganz braven Konsumenten umerziehen möchte. Es ist interessant, dass wir das, was wir demokratische Partizipation nennen, derzeit alle am eigenen Leib erfahren. Denn diese Zeit erfordert das demokratische Mittun vom kleinen Kind, das auf den Kindergarten verzichten muss, bis zu meiner 97jährigen Mutter, die eingeschlossen ist und die nicht von ihrem Sohn besucht werden darf. Ein Phänomen, das auch die Chance birgt, dass wir alle merken, dass alles mit allem und wir untereinander zusammenhängen. Ich bin mir aber nicht sicher, dass die richtigen Schlüsse gezogen werden.

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Eine starke systemische Veränderung, die meinen Job betrifft, die Welt zu beobachten aus außenpolitischer Perspektive, ist die Abmeldung der USA als Krisenmanagerin. In der Regel gab es bei größeren Krisen eine Weltregie durch die Dominanz der Amerikaner. Noch in der Ebola-Krise zum Beispiel hat Präsident Obama, das war vielleicht nicht so global wahrnehmbar, sehr viel gemacht für Afrika und gemeinsam mit der WHO das Krisenmanagement durchgezogen. Jetzt sehe ich, wie die USA auf sich selbst bezogen sind, gefangen im Irrgarten der Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen eines Präsidenten, der jeden Tag etwas anderes sagt und die Krise selbst für Trumpsche Verhältnisse auf eine absurde Ebene bringt, wie Desinfektionsmittel spritzen. Die USA sind total abgemeldet. Und China gebärdet sich als die Weltmacht, die nicht nur die Krise schon fast gemeistert hat, sondern auch vorgibt, wie sie zu meistern ist und jetzt auch noch zur Demütigung aller Schutzmasken exportiert und Hilfstruppen entsendet. Da haben sich die Rahmenbedingungen und geopolitischen Prioritäten stark verändert.

Ich habe immer gedacht, wenn es ernst wird, kann ich mich in die „splendid isolation“ von Südtirol zurückziehen, denn Südtirol ist ja die Insel der Seligen, der wirtschaftlichen Absicherung, der Autonomie und so weiter und so fort. Aber es geht nicht. Ich kann nicht über die Grenze. Südtirol hat es viel schlimmer getroffen als Österreich. Die Grenzen sind zu und auch Österreich denkt nicht mehr so sehr an Südtirol, höchstens als negatives Beispiel, was passieren kann, wenn es so läuft, wie es gelaufen ist. Die Maßnahmen haben mich sehr beeindruckt, also sich nur 200 Meter von der Wohnung entfernen, Passierschein, Polizeikontrollen, Schutzmaske und anstehen vor Lebensmittelgeschäften. Das habe ich in den letzten sechs Wochen in Wien nie erlebt.

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Pessimisten sagen, dass auch diese Krise zum Anlass genommen wird für eine große Umverteilung von unten nach oben. So ähnlich wie bei der Finanzkrise 2008, wo am Ende die Banken, Finanzunternehmen und Investoren am besten ausgestiegen sind. Dass durch die Reorganisation der Wirtschaft wieder sehr viel Kapital den gut organisierten Lobbys zufallen wird und viele andere auf der Strecke bleiben. Zu Recht fordert daher die Zivilgesellschaft in Österreich Transparenz, wie das Geld verteilt wird, das man jetzt zur Unterstützung der Wirtschaft einsetzt, das ja Geld der Steuerzahler ist, und wem es zufließt. Hier muss man schauen, dass die Schere zwischen arm und reich nicht noch weiter aufgeht. Jetzt sind alle im Corona-Boot, aber nachher wird es wieder ganz viel Differenzierung geben und ob dann der Gleichheits- und Gerechtigkeitsgrundsatz noch erhalten bleibt, da muss man sehr genau aufpassen.  

Zeichnung: Gabriela Oberkofler
Fotos © Andreas Pfeifer: (1+2) Anleitung zur Misanthropie in Corona-Zeiten; (3+4) Home-Office: Welterklärung aus dem Wohnzimmer – hier mache ich eine Skype-Analyse zum Gesundheitszustand der Demokratie in Corona-Zeiten; (5) Ein Foto aus normalen Zeiten in der ORF-Redaktion.  

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There are 3 comments for this article.
  • Gysel · 

    Hallo Andreas Pfeifer,
    In der Morgensendung guten Morgen Österreich vom 12.01.2021 haben Sie folgendes herausgehauen:
    Die USA sei die grösste Demokratie der Welt. Da muss ich Sie auf den aktuellen Wissensstand bringen und Sie
    korrigieren.
    Die grösste d Demokratie ist immer noch mit 1200 Millionen Einwohnern Indien.
    Dies sollten Sie eigentlich wissen und ist meiner Meinung nach beschämend.

    Gruss aus der Schweiz
    Peter Gysel

  • Christian Trampitsch · 

    Sehr geehrter Andreas Pfeifer, Sie sind mit Abstand der beste Sprecher des ORF. Als Sänger habe ich ein sehr feines Ohr und ich könnte mir vorstellen, dass Sie den restlichen Kommentatoren und Redakteuren des ORF Sprachunterricht erteilen, damit die richtige Aussprache endlich gelernt wird. Schade, dass Sie nicht öfter Fernsehen zu hören und sehen sind, Sie erhielten von mir eine römische 1.
    Mit besten Grüßen
    Christian Trampitsch

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