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September 11, 2023

Wer warst du im Regen?

Lena Pernthaler

Sommerregen. Niemand hatte mich davor gewarnt. Der Himmel wechselte innerhalb von Sekunden sein Farbkleid und trug jetzt einen grauen Schleier. Es schien, als würde er rauslassen, was er tagelang zurückgehalten hatte, und alle, die gerade unter ihm standen, bekamen es ab. Ich zum Beispiel. 

Die Meinung anderer. Meistens trifft sie dich wie der Sommerregen, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung. Plötzlich prasseln Worte auf dich ein und du stehst da ohne Regenschirm und Ahnung, was du mit ihnen anfangen sollst. 

Was dann typisch ist, im Regen und im Leben, dass man das, was da plötzlich auf einen einprasselt, persönlich nimmt. Dann steht man in einem völlig durchnässten Sommerkleid da und denkt sich: „Das nächste Mal nehme ich einen Regenschirm mit. Das nächste Mal zeig ich mich nicht so sehr, schreib nicht so ehrlich, red nicht so viel, und träum nicht so groß.“ Vielleicht überrascht einen das nächste Mal der Sommerregen nicht. Und die Meinung der anderen. Vielleicht vergisst man beim nächsten Mal aber auch ein bisschen, wer man ist.

Werden wir es irgendwann bereuen? Aus Angst vor dem Regen und dem Leben nicht das gemacht, gesagt, geschrieben und gewagt zu haben, was wir eigentlich wollten? „Ja.“, sagt Bronnie Ware. Als Pflegerin durfte sie Sterbende durch ihre letzten Stunden begleiten. Sie hat den verschiedenen Lebensgeschichten gelauscht, den falschen Entscheidungen, den Versäumnissen, den Erkenntnissen und den Glücksmomenten. Die Weisheiten der gelebten Leben hat sie in ein Buch abgefüllt: „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen”. 

„Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben” ist auf Platz eins der fünf Dinge. Die Palliativpflegerin gibt sich am Ende des Buches ein Versprechen: „Sich niemals von den Dingen abbringen zu lassen, die sie in ihrem Leben machen will.” 

Sommerregen. Ich stehe da, in einem völlig durchnässten Kleid, und erinnere mich, wie ich mich als kleines Mädchen über den Regen gefreut, die zarten Ärmchen ausgestreckt, das Gesicht zum Himmel und barfuß Pirouetten gedreht habe. Wovon ich geträumt habe. Worüber meine Augen gestrahlt haben. Und worüber ich stundenlang reden konnte. Sich erinnern, wer man ist. Immer wieder. In Tolstois Worten: „Washing away from all that is not gold.”

Wer warst du im Regen, bevor das Leben dir gesagt hat, wer du bist? 

Foto: (c) Nora Pernthaler 

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