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July 31, 2023

Morgen wachst du in einer neuen Welt auf

Lena Pernthaler

Eine Yin-Yogastunde in Barcelona. Es roch nach Flieder, Frühling und Räucherstäbchen, als ich versuchte, in die Yogapose und den Moment reinzufinden. „Oruga“, deutsch Raupe, hieß die erste und die Yogalehrerin mit langen silbernen Haaren wisperte sinnlich und spanisch ein Mantra dazu, das ich nicht verstand. 

Anstatt in den Moment, trugen mich meine Gedanken zurück an die Abende, an denen ich mir aus dem bunten Bücherregal „Die Kleine Raupe Nimmersatt“ als Gute-Nacht-Geschichte ausgesucht habe: Die Verwandlung der Raupe in einen „wunderschönen Schmetterling“. Eigentlich interessierte mich die Geschichte kaum, bis zu dem Punkt, als die Raupe nach zwei langen Wochen ein Loch in den Kokon knabberte und endlich zum Schmetterling wurde. Am liebsten hätte ich schon vorher ans Kokon geklopft und die Schlafende mit einem „Wach auf, du bist jetzt ein Schmetterling!“ geweckt. In einem Experiment haben Forscher so etwas Ähnliches wirklich ausprobiert: Sie versuchten, die Metamorphose der Raupen zu beschleunigen, indem sie die Puppenhüllen aufschnitten. Die Raupen starben.

Ähnlich wie die Forscher mit den Kokons umgingen, gehen wir oft mit uns selbst um. Augen auf das Ziel, auf das, was noch nicht da ist, und das, was wir noch nicht sind. Genau so verpassen wir die Magie. Die Magie zwischen der Raupe und dem Schmetterling. Die Magie zwischen Sein und Werden. Zwischen Montag und Freitag. Zwischen Knospe und Blüte. Zwischen Weg und Ziel. Eigentlich verpassen wir das Größte: das Leben.

Genieß jede Phase, jeden Moment! Erstmal in die nächste Yogapose. Plötzlich war ich ein Schmetterling  – „Mariposa”, so hieß zumindest die nächste Übung. Wer wissen will, wie sich das anfühlte: Neu. Außer das Mantra, das die silberhaarige Yogalehrerin abermals sinnlich in den Raum wisperte. Ich lehnte mich in die Dehnung, ins Neue, meine Faszien rebellierten und ich auch. Alles was neu ist, kann erstmal Widerstand hervorrufen. Kein Stress. Auch das ist Teil der Metamorphose.

Wir beendeten die Yogastunde mit einem einstimmigen Namasté und gefalteten Händen vor den Herzen. Im Sanskrit eine Verneigung vor sich selbst und dem Gegenüber. Es war ja auch viel passiert in der Yogastunde. Nichts Geringeres als eine komplette Metamorphose. Als ich schon die Tür des Yogastudios öffnete und der spanischen Sonne entgegen blinzelte, drehte ich mich nochmal um. Die Yogalehrerin war mir noch eine Übersetzung schuldig. Was bedeutete das Mantra, das uns durch die Übungen getragen hatte? 

„Morgen wachst du in einer neuen Welt auf, denn das, was für die Raupe das Ende der Welt ist, nennt die Welt Schmetterling.“ – „Genieß jede Phase, jeden Moment”, würd ich hinzufügen.

Foto: (c) Nora Pernthaler

 

 

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