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July 17, 2023

Ich war tausend Frauen

Lena Pernthaler

If you love me, let me know. Oder: Wenn du mich liebst, schenk mir ein Moleskine-Tagebuch. Die wunderschönen Notizbücher mit zart beigen Seiten, die seit Jahren meine Worte beherbergen. Wie Marmeladengläser stehen die mit Leben abgefüllten Tagebücher in meinem Regal. Gut verschlossen und konserviert, so dass man sie auch erst Jahre später wieder öffnen kann. Das Schöne: Je mehr Zeit vergeht, desto wertvoller und süßer wird der Geschmack ihrer Worte. Wenn ich sie dann öffne – das ist selten –, schmunzle ich. 

Ich war tausend Frauen, bis zu der Frau, die ich heute bin, und morgen werde ich wahrscheinlich schon wieder eine andere sein. Mit 16 war ich die, die den gleichen Kurzhaarschnitt wie Sienna Miller wollte und dann enttäuscht darüber schrieb, dass es bei mir nur halb so schön aussah. Am liebsten würde ich mein 16-jähriges Ich anschreien, durchschütteln, ihr sagen, wie falsch sie doch lag. Ich tue etwas ganz anderes: Ich suche nach einem roten Stift. „DU WARST SO SCHÖN – UND ES LAG NIE AN DER FRISUR!“, steht jetzt in tiefroten Großbuchstaben neben dem Tagebucheintrag von 2016.

So beginnt der Dialog in blau und rot, ein Dialog zwischen mir und mir. „Self Parenting”, deutsch Selbsterziehung, nennt sich der psychologische Begriff dazu. Die eine Stimme ist das “innere Elternteil”, die andere das “innere Kind”. Ähnlich wie ein liebendes Elternteil, nimmt man sich in den Arm, leitet sich an und flüstert sich liebende, aufbauende Worte ins Ohr. Ziel des Ganzen ist es, sich gesehen, gehört und geliebt zu fühlen. Drei Zustände, die wir gern in der Außenwelt suchen, anstatt in uns selbst. 

Weiter mit den tausend Frauen: Mit 17 war ich dann die, die über ihr schweres Herz und Liebeskummer schrieb. „HEUTE WEISST DU NICHT EINMAL MEHR, WIE ER HEISST!“ Mit 18 schrieb ich den Satz in mein Tagebuch, den mir jemand nach der Matura in ein Kärtchen gekritzelt hat: „Jetzt stehen dir alle Türen offen!“ Ich schrieb auch über das Gefühl, dass jede Tür, die ich zu öffnen versuchte, erst mal abgeschlossen war.  

Tausend Frauen, jede einzelne steckt in meinen Knochen, wickelt sich wie Zwiebelschale um mein Sein. Darunter ist dieser unzerstörbare, unendlich liebende, allgegenwärtige Kern. Das liebevolle sanfte Stimmchen oder auch die roten Großbuchstaben in meinem Tagebuch. 

„DU WIRST ALLES SCHAFFEN.“ Du wirst den Haarschnitt, den Herzschmerz und die verschlossenen Türen überleben. Du wirst dich verlieren und wieder einsammeln. Die Haare werden wachsen und die Türen, die wirst du dir einfach selber bauen! Hab den Mut, auf diese dich liebende Stimme zu hören. Lass sie stets lauter als deine Geister sein.

Foto: (c) Nora Pernthaler

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Comments

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There is one comment for this article.
  • Katharina · 

    Wow liebe Lena. Du bist wirklich so vieles und noch viel mehr als du denkst. Danke für diesen Beitrag!

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