People + Views > Portraits

May 2, 2016

Die Stimme für Stimmlose:
Silent Storm Productions

Maximilian Mayr
Am Montag, 9. Mai 2016 sind Sarah Trevisiol und Matteo Vegetti ab 19 H zu Gast im Jux in Lana sprechen anlässlich des Radiowettbewerbes "Zivilcourage On Air" über ihre Motivation als sozial engagierte FilmemacherInnen und über Film als Mittel für Zivilcourage. Der Eintritt ist frei, Anmeldung erwünscht unter info@jux.it oder telefonisch unter 334 38 44 795.

Mit ihrer Produktionsfirma “Silent Storm Productions” reisen Sarah Trevisiol und Matteo Vegetti um die ganze Welt auf der Suche nach Geschichten, die sonst in den traditionellen Medien übersehen werden. Menschen anderer Kulturen nicht nur als bloße “Opfer” abzutun, sondern deren Talente und Fähigkeiten in den  Vordergrund  zu stellen, ist dabei ihr Hauptanliegen; wie zum Beispiel in dem in Kürze erscheinenden Dokumentarfilm “Let me be me” über Transsexuelle in Bangladesch. Stets um die Würde und das Wohlbefinden ihrer ProtagonistInnen bedacht, sind auf diese Weise bereits interessante Projekte über Schönheitsideale in Indien oder Ausländerfeindlichkeit in Südtirol  zustande gekommen. Mit uns haben sich Filmemacherin und Filmemacher zum Interview getroffen.

Sarah und Matteo, wie seid Ihr auf den Namen “Silent Storm Productions” gekommen?

Matteo: Wir haben einen Namen gesucht, mit dem wir uns identifizieren und der auch die Arbeit, die wir machen, auf den Punkt bringt. Der “stille Sturm” versucht denen eine Stimme zu geben, die keine haben. Es gibt viele Projekte, die Menschen helfen und etwas Positives für die Gesellschaft bewirken, die aber keine großen Kommunikationsmöglichkeiten haben. Wir suchen nach solchen Projekten und geben ihnen eine Stimme. Wir möchten, dass diese Projekte Aufmerksamkeit erfahren.

Sarah: Genau! Projekte, die sich für eine bessere Welt einsetzen, wobei die Tat des einzelnen andere beeinflusst und einen storm, also einen Sturm, auslöst. 

Wann habt ihr mit “Silent Storm” begonnen?

Matteo: Das Projekt hat letzten Sommer Form angenommen, auch wenn wir seit nunmehr fünf Jahren zusammen arbeiten. Wir haben bereits mehrere Arbeiten verwirklicht, die mehr oder weniger dieselbe Themenrichtung hatten – soziale Projekte und Identität. Letzten Sommer haben wir uns dann aber diese neue Identität des “Silent Storm” gegeben. Wir haben also alle vergangenen Arbeiten auf einer Website gesammelt und unseren Fokus mehr auf NGOs und längere oder kurze Dokumentarfilme ausgerichtet.  Weil du gerade die realisierten Projekte ansprichst: Welcher Dokumentarfilm, würdet ihr sagen, hat eure Sicht auf die Welt grundlegend verändert?

Matteo: Ich würde sagen eigentlich alle Projekte…

Sarah: Wobei mich “Insiders-Outsiders” (koproduziert von franzmagazine) schon besonders beeinflusst hat. Ich habe die Wichtigkeit des Dokumentarfilms verstanden und wie dieser eine Botschaft  an ein breites Publikum sendet, aber auch eine sehr konstruktive Dynamik entstehen lässt, die auch die TeilnehmerInnen des Films selbst erfasst. “Insiders-Outsiders” behandelt ImmigrantInnen der zweiten Generation, die in Südtirol geboren und aufgewachsen sind, die aber nur auf dem Papier die gleichen Rechte genießen wie ihre MitbürgerInnen, weil ihre Eltern Ausländer sind. Wir haben eine Gruppe von 15 Menschen zusammen gebracht, mit der wir aktiv zusammengearbeitet haben und mit der wir auch auf dieses Thema aufmerksam gemacht haben. Wir sind dadurch sogar nach Rom und haben dort an einem Projekt des Innenministeriums teilgenommen, um die Gesetzgebung zu ändern. Heute, zwei  Jahre später, ist die Gesetzgebung nicht mehr dieselbe. Dieses Beispiel war für uns sehr nützlich, um zu zeigen, wie das Medium des Dokumentarfilms etwas Ausschlaggebendes bewirken kann – also einen Silent Storm lostritt. 

Matteo: Dieses Projekt war das erste, das uns auf das Genre Dokumentarfilm gebracht hat. Vorher haben wir Ausstellungen und Events gemacht…

Sarah: Immer aber auch in Verbindung mit Videos…

Matteo: Mit der Zeit sind wir aber immer häufiger auf den Dokumentarfilm zurückgekommen. Und dadurch lernt man unmöglich viele Realitäten kennen, die uns dabei helfen unsere eigene Identität besser zu verstehen. Wir waren zum Beispiel in Indien und haben einen Film gemacht, der dann von National Geographic veröffentlicht wurde. Der Dokumentarfilm mit dem Titel, Apatani Beauty, behandelt eine Population im Nordosten Indiens in der die Frauen enorme Piercings an der Nase tragen und im Gesicht tätowiert sind, was für unser westliches Schönheitsideal verstörend ist, dort aber als Ideal angesehen werden. Wir haben vor Ort gesehen wie sich die Tradition verändert und wie sich andere Kulturen selbst wahrnehmen.

Sarah: Und du lernst sehr schnell wie diese Gesellschaften, die bis vor 50 Jahren in totaler Isolation gelebt haben, heute oft entwurzelt sind weil sie keine Referenzpunkte mehr haben, da die westliche Welt durch unsere Medien die Leute beeinflusst. Die jungen Menschen dort haben keine Lust an die alten Traditionen anzuknüpfen. Aber warum würdet ihr sagen, thematisieren traditionelle Medien Geschichten wie die, die ihr gerade angesprochen habt, nicht in ihren Beiträgen?

Sarah: Weil die großen Medien tendenziell dem folgen, was gerade aktuell ist. Einerseits berichten sie über gewisse Themen, andererseits schaffen sie auch einen Fokus, über den dann alle reden, wie Im Moment die Flüchtlingskrise oder der Syrien-Konflikt. Es gibt vielleicht viele Geschichten, die nicht so aktuell sind, die aber sehr gut veranschaulichen, wie sich die Welt verändert und wie eine Veränderung auf der einen Seite des Erdballs eine andere auf der anderen Seite zur Folge haben kann…

Habt ihr da ein konkretes Beispiel dafür?

Sarah: Im Moment bereiten wir einen Film für’s Kino vor, in dem es um ein Fruchtbarkeitsfestival in der Zone von Kalkutta in Indien geht, die nur sehr schwer zu erreichen ist. Dieses Festival war während der britischen Kolonialisierung verboten, weil es als barbarisch angesehen wurde. Der Westen hat also schon damals alte und wertvolle Traditionen verboten und zerstört. Die  Einheimischen haben dann diesen Kult heimlich weiter praktiziert und seit den 80er Jahren erfährt dieses Festival wieder ein neues Revival. Auf diesem Festival werden Zungen, Wangen und andere Körperteile gepierct oder Tattoos gemacht, was man seit Jahren mittlerweile auch immer häufiger in Europa sieht. Diese Tradition stammt aus Indien und Nordamerika von Völkern, die nicht westlich sind. Das Aufblühen des Fruchtbarkeitsfestivals in Indien hatte also direkte Folgen für unsere europäische Kultur. Ein weiteres Beispiel, das Matteo bereits angesprochen hat, sind die Frauen aus Apatani, die ihre Nasen und Ohren mit Bambusplättchen ausweiten. Ein Trend, den man vermehrt auch bei vielen Jugendlichen hierzulande beobachten kann. Silent Storm Productions - Gods-for-a-week Ich habe auf eurer Website gelesen, dass “Silent Storm Productions” gegen “Sensationsgeilheit und Opferdenken” ist. Könnt ihr das genauer erklären?

Matteo: Sehr oft werden in den Berichterstattungen der Medien Menschen in armen Regionen als bloße Opfer dargestellt, die immer Opfer bleiben werden. Als ob sie Objekte wären, für die man Mitleid empfinden muss. Für uns ist dieser Ansatz nicht unbedingt produktiv. Es handelt sich um Personen, die auch als solche respektiert werden müssen.

Sarah: …und die Talente haben und deren Probleme man lösen kann, aber nur durch Aufmerksamkeit. Es sind Menschen mit Ideen und Talenten und wir möchten ihnen nur die Möglichkeit geben, das zu zeigen.

Matteo: Was die Sensationsgeilheit angeht, möchte ich noch hinzufügen, dass es nicht gut ist, Schicksale von anderen zu instrumentalisieren, um sich selbst besser zu fühlen oder einen Skandal auszulösen. Man muss die Dinge immer unter allen Gesichtspunkten betrachten. Das Leben ist nicht schwarz oder weiss, sondern viel komplizierter.

Sarah: Wir lassen uns bei unseren Projekten von den Menschen leiten und nicht davon, was wir brauchen und glauben medial zeigen zu müssen, wie die Tränen und das Drama. Wir versuchen immer die Person zu respektieren und zu zeigen, was sie der Welt gerne mitteilen möchte. Auch wenn eine Szene auf der Leinwand Effekt macht, entscheiden wir uns für das Wohlbefinden der betreffenden Person, wenn diese sich dafür entscheidet, die Szene  zu löschen.

Matteo: Sehr oft entwickeln wir ein sehr enges Verhältnis zu unseren ProtagonistInnen und manchmal zeigen sich wirklich intime Aspekte, die wir aber selten zeigen, weil es uns nicht angemessen erscheint.

Sarah: Es gab auch Projekte, die wir nicht realisiert haben, weil die ProtagonistInnen noch nicht bereit waren. Uns ist der Wille der Personen immer sehr wichtig. In einem zweiten Moment kommt dann der journalistische Aspekt, weil es ich ja um reale Erlebnisse und Situationen handelt und nicht um ein Spiel. Ein Porträt einer Peron kann sehr negative oder auch positive Effekte nach sich ziehen. Man muss sehr aufpassen, dass die dargestellten Menschen keine Probleme, zum Beispiel mit dem Gesetz, bekommen. Die meisten Projekte waren aber sehr positive Erfahrungen, durch die unsere ProtagonistInnen oft neuen Lebenswillen oder Selbstbewusstsein erhalten haben.

Abgesehen vom Projekt über das Fruchtbarkeitsfestival, was ist noch in Planung oder würde euch interessieren?

Matteo: Neben dem Projekt, das du gerade angesprochen hast und das wir gerade schneiden, arbeiten wir im Moment an einem Film über Transsexuelle in Bangladesch, die sogenannten Hijras, die in einem neuen, dritten Geschlecht eine neue Identität finden. Wir sind während des Ramadan nach Bangladesch und haben dort eine Transsexuelle in ihrem Alltag begleitet. In Bangladesch ist dieses dritte Geschlecht offiziell anerkannt, was in einem islamischen Land selten ist. Natürlicherweise bedeutet das nicht, dass es dort keine Diskriminierung gibt. Die Person, die wir porträtieren ist eine Aktivistin, die sich für die Rechte von Transsexuellen einsetzt. 
Abgesehen davon werden wir im Moment in Südtirol sein, nach Finanzierungsmöglichkeiten für andere Projekte suchen und auf lokale Projekte aufmerksam machen, bis wir dann wieder für die nächste Destination unsere Koffer packen.

Photo by Silent Storm Productions: (1) Sarah Trevisiol + Matteo Vegetti in Narayampur; (2) Work in progress: Gods for aweek

Print

Like + Share

Comments

Current day month ye@r *

Discussion+

There are no comments for this article.