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September 9, 2024
Große Leinwände, kleine Momente: Das visuelle Tagebuch von Andrea Fontanari
Andreas Heiler
Der junge Trienter Künstler Andrea Fontanari versteht es auf unverwechselbare Weise, den Zauber kleiner Momente groß zu inszenieren. Seine jüngste Soloausstellung in der Galleria Boccanera in Trient, „The Monumental Ordinary“ (5. März bis 31. Mai 2024), macht genau dies zum Thema: Das Monumentale im Alltäglichen. Fontanaris Werke zelebrieren das alltägliche Leben, wobei seine großformatigen Leinwände wie Architekturen im Raum wirken und die Betrachter*innen dazu einladen, in diese Welten einzutauchen.
Andrea Fontanari, 1996 geboren, lebt und arbeitet zwischen Trient und Venedig. Nach seinem Studium an der Accademia di Belle Arti in Venedig und einer Reihe internationaler Ausstellungen nahm er an der Gruppenausstellung „Pittura italiana oggi“ bei der Mailänder Triennale teil (Oktober 2023 bis Februar 2024). 2023 wurde er von dem Kritiker Luca Beatrice für „Supernova 23“ ausgewählt, eine Ausstellung im Bereich der Gallerie d’Italia im Rahmen von Miart. Außerdem war Fontanari Finalist des 21. Cairo-Preises im Palazzo Reale in Mailand (2022) und gewann den „Montani Tesei Under 35 Preis“ auf der ArtVerona (2021).
Im Spiel mit Licht und Farbe, Raum und Zeit erforscht er gleichzeitig mimetisch wie flüchtig die Identität einer jungen Generation – seiner Generation. Dabei beginnen seine Motive oft realistisch, um sich dann durch bewusste Reduktionen zu verwandeln und neue Perspektiven auf alltägliche Objekte und Szenen zu eröffnen. Mit energiegeladenen, lebendigen Pinselstrichen fängt er Szenen ein, die sich zu seinen großformatigen Kompositionen aufbauen und eine besondere Tiefe und Präsenz entwickeln. Stilistisch bewegt er sich an der Schnittstelle zwischen Gerhard Richters Fotorealismus und Wolfgang Tillmans’ Schnappschuss-Ästhetik. Richters Vorgehen, Fotografien als Basis für seine Malerei zu verwenden und durch Unschärfe sowie bewusstes Verwischen eine Mehrdeutigkeit zu erzeugen, spiegelt sich in Fontanaris Werk wider. Seine Gemälde beginnen oft als fast fotografische Momentaufnahmen, bevor sie durch malerische Eingriffe abstrahiert werden. Wie bei Tillmans wird auch bei Fontanari das Alltägliche zu etwas Erhabenem, indem es in einem neuen Kontext monumentalisiert wird. Intime, persönliche Momente, die in der digitalen Masse oft verloren gehen, werden bei ihm aus der Anonymität gehoben und zu imposanten, sinnlichen Bildern. In dieser Kontrastierung entsteht eine Spannung zwischen der Vergänglichkeit des Augenblicks und seiner monumentalisierten Festschreibung.
Ich hatte die Gelegenheit, Andrea in seinem Studio in Seregnano, etwa 15 Minuten von Trient entfernt, zu besuchen. In unserem Gespräch gewährte er mir viele Einblicke in seinen Schaffensprozess und die vielfältigen Einflüsse, die seine Kunst prägen. Wir sprachen über das Spannungsfeld zwischen Intimität und Öffentlichkeit, über die Rolle der männlichen Perspektive, die er kritisch und ironisch hinterfragt, und über den Kontrast zwischen den Kunstszenen in Trient und Venedig.Andrea, in deinen Arbeiten gibst du alltäglichen Szenen eine neue, monumentale Dimension. Wie entwickelst du diese Perspektiven und was möchtest du durch diese Transformation ausdrücken?
Ich habe festgestellt, dass ich fließender arbeiten kann, wenn ich keine Barrieren zwischen mir und dem Bild aufbaue. Die Einfachheit und Unmittelbarkeit bei der Auswahl des Motivs resultieren aus einer intensiven Recherche, die ich durch Fotos, Skizzen oder Ideen mache, ohne dabei allzu lange bei dem Gefundenen zu verweilen. Ich möchte so malen, als ob es spontan geschehen würde, auch wenn Ölmalerei paradoxerweise viel Zeit und Geduld erfordert. Für mich ist Kunst eine Einschränkung des Lebens; die Malerei gibt mir die Möglichkeit, Momente und Objekte, die vergangen sind, in eine reale Dimension zu überführen.
Wie nutzt du deine Kunst, um deine eigene Identität und die der Menschen um dich herum darzustellen? Welche Botschaften möchtest du vermitteln, wenn du das Alltägliche malst?
Ich habe begonnen, das zu malen, was mich umgibt. Ich habe bemerkt, dass ich nur mit Liebe malen kann, was ich persönlich kenne, weil nur wir selbst Zeugen unserer Perspektive sein können. In meinen Arbeiten möchte ich das Alltägliche in Bezug auf öffentlich und privat, echte und performative Intimität betonen, sowie das kollektive Bedürfnis, intime Momente anderer zu beobachten und daran teilzuhaben. Für mich geht es darum, den Betrachter*innen zu ermöglichen, Empathie mit dem Motiv aufzubauen und darüber nachzudenken, wie es ist, das Subjekt/Objekt zu sein. Welche Rolle spielen wir in diesem Kontext? Was bedeutet unsere Teilnahme?
Was ist die Bedeutung deines Werks „Black Toilet“ und was möchtest du damit ausdrücken?
Dieses Werk bringt mich zum Schmunzeln. Es gehört zu einer Serie, in der ich meinen Blickwinkel auf das Bild übernehme und meine Füße, wie in vielen Instagram-Story-Fotos, mit ins Bild bringe. Dieses Motiv stammt aus einer Raststättentoilette, alles war schwarz und aus Stahl. Es gefiel mir wegen der Lichteffekte und der Möglichkeiten, die es beim Malen bot. Zudem schien es mir das offensichtlichste und universellste Motiv. Später habe ich festgestellt, dass diese Perspektive nur uns Männern vertraut ist – eine männlich-zentrierte Sicht auf ein Badezimmer, was Identität betrifft.Deine Ausstellung „The Monumental Ordinary“, die in der Galleria Boccanera in Trient gezeigt wurde, nutzte großformatige Gemälde, um halbgeschlossene Architekturen zu schaffen. Was war die Idee hinter dieser ungewöhnlichen Präsentation?
Ich war von Anfang an von Giorgia Lucchi Boccaneras Idee begeistert, die Gemälde wie Wände zu präsentieren und so einen Weg durch die Ausstellung zu schaffen. Es fühlte sich an, als ob die Bilder mit der Architektur verschmelzen und das Leben mit seiner Darstellung eins werden würde. Ich denke, das ist eine natürliche Konsequenz dessen, was ich mit meinen Werken beabsichtige. Fast so, als wären es Paneele der Street Art, bei denen das Gemälde mit der Architektur übereinstimmt und das Leben mit seiner Darstellung verschmilzt, sodass sie selbst Teil unserer Erfahrung werden. Deshalb die monumentalen Maße der Gemälde, denn ein kleines Gemälde liegt unter unserer Kontrolle, während uns die großen in ihre Dimension hineinziehen, wir müssen sie durchwandern, um sie vollständig zu erfassen.
Wie interpretierst du das Verhältnis zwischen Intimität und Öffentlichkeit in deinen Gemälden?
Mich interessiert sehr, wie Menschen soziale Netzwerke nutzen, wie sie private Momente einem mehr oder weniger großen Publikum teilen und auf diese Weise ihre „15 Minuten Ruhm“ erleben, wie Andy Warhol es einst beschrieb. Das inspiriert mich, weil diese Praxis unsere Wahrnehmung von Realität verändert hat. Dabei geht es mir nicht darum, kritisch oder wertend zu sein, sondern eher darum, die ästhetischen Vorschläge zu untersuchen, die die moderne Welt uns bietet, und die Beziehung zwischen der Intimität der Menschen und uns als Beobachter*innen zu hinterfragen.
Deine Arbeit scheint oft die Ästhetik flüchtiger Schnappschüsse zu bewahren, wie sie seit den 90er-Jahren durch Künstler wie Wolfgang Tillmans populär geworden ist. Inwiefern beeinflussen soziale Netzwerke und dieser Fotografie-Stil deine Kunst und die Darstellung alltäglicher Momente?
Die Fotografie ist für mich ein sehr wichtiger Ausgangspunkt vieler meiner Werke. Als jemand, der um die Jahrtausendwende geboren wurde, bin ich ein figurativer Maler, und Fotografie gehört heute einfach zu unserem visuellen Vokabular. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe Tausende von Fotos auf meinem Handy, die all die verschiedenen Momente meines Alltags zeigen. Mich fasziniert das Verhältnis zwischen der Geschwindigkeit, mit der diese Momente durch die sozialen Netzwerke konsumiert werden, und dem Versuch, sie durch ein langlebiges Medium wie Öl auf Leinwand festzuhalten.Deine Technik wirkt sehr energisch und lebendig. Welche Materialien und Techniken bevorzugst du?
Ich bevorzuge die Ölmalerei. Obwohl ich mit anderen Techniken experimentiert habe, denke ich oft, dass es bei meiner Praxis nicht so sehr um das Material geht, sondern vielmehr um die Bilder selbst. Ich benutze eine einfach vorbereitete Ölfarbe, die es mir ermöglicht, schnell und klar zu malen, sodass ich mich eher auf die malerisch-visuellen Herausforderungen konzentrieren kann als auf technische Fragen.
Gab es Künstler oder Kunstbewegungen, die einen großen Einfluss auf deine Arbeit hatten? Wie haben sie deine künstlerische Entwicklung geprägt?
Es gibt viele Künstler, die mich beeinflusst haben und auch weiterhin prägen. Ich bin wie ein Schwamm, nehme verschiedene Elemente auf und integriere sie in meine Arbeit, oft ohne es bewusst zu merken. Ich könnte eine lange Liste von Künstlern aufzählen, die für mich wichtig sind, aber vor allem bin ich von jenen inspiriert, die mich auf den ersten Blick in den Bann ziehen und mir, wie Gilles Deleuze es ausdrückte, dieses „neuronale Vergnügen“ verschaffen.
Wie beeinflussen die beiden Städte Venedig und Trient deine Arbeit und deine künstlerische Vision? Gibt es Unterschiede in der Kunstszene, die auf deine Arbeit einwirken, und welche Auswirkungen haben diese unterschiedlichen künstlerischen Umgebungen auf deine Arbeit?
An Trient mag ich die Grenzlage: Von hier aus erreicht man Mailand, München und Venedig in weniger als drei Stunden. Was Venedig betrifft, so schätze ich besonders seine Internationalität. Dort zu studieren, ermöglichte es mir, ständig zu beobachten, was in der Kunstwelt geschieht.
Beschreibe einen typischen Arbeitstag. Hast du bestimmte Routinen oder Rituale, die du befolgst, wenn du an deinen Gemälden arbeitest?
Ich habe keine festen Rituale; es hängt stark von der Phase ab, in der sich das jeweilige Werk befindet. Eines ist sicher: In der Malerei gibt es keine klaren Regeln, der Prozess ist immer komplex, unerwartet, aber voller Freude. Was bei mir auf keinen Fall fehlen darf, ist der Kaffee – darin bin ich ganz Italiener.
Fotos: (1, 2, 4–8) Andrea Fontanari Studio visit (c) Andreas Heiler; (3) Black Toilet (c) Andrea Fontanari.
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