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November 8, 2013

Mitten in der Stadt wie auf einem Gipfel: Nicole Weniger und ihr Schreiraum

Kunigunde Weissenegger

Schreiraum. Das Wort ist mir irgendwann einmal diesen Sommer ins Auge geschossen. Wahrscheinlich über einen Post auf Facebook. Schreiraum, dachte ich mir. Das wäre manchmal recht praktisch. Wenn alles einfach nur kakig ist – oder im Gegenteil auch tiptop, in einen Raum gehen zu können und sich dort die Eingeweide aus dem Leib schreien und kreischen zu dürfen. 

Innsbruck und Wien hatten diesen Sommer diese Möglichkeit: Die schalldichte Raum-in-Raum-Konstruktion stand den Sommer über in den beiden Städten und war weithin sichtbar, weil seine Außenhülle aus gelben Schaltafeln besteht. Groß ist er in etwa wie ein mittleres Studentenzimmer und hoch so, dass auch wirklich große Menschen gemütlich aufrecht darin stehen können (350 x 250 x 260 cm). Der wirkliche Clou an diesem Schreiraum war aber, dass die Schreie dank simultaner Geräuschübertragung live auf einem Berggipfel in der Umgebung der jeweiligen Stadt zu hören waren und als Echo in den Schreiraum zurück hallten. Nicole WenigerDie Idee für dieses ungewöhnliche Projekt hatte die Innsbrucker Künstlerin Nicole Weniger. Sie arbeitet überwiegend performativ, fotografisch und installativ. Im Sommer 2013 hat sie in der Klasse von Brigitte Kowanz an der Universität für Angewandte Kunst in Wien diplomiert und arbeitet zur Zeit an Einzelausstellungsprojekten in Salzburg und New Orleans. Thematisch kreisen ihre künstlerischen Arbeiten um die Bedürfnisse des urbanen Menschen sowie die Diskrepanz zwischen Natur und Kultur. Wir wollten natürlich mehr über ihr Projekt wissen, auch weil die befreiende Holzbox im Frühjahr 2014 weiter nach Graz wandern soll. 

Nicole, wie kommt es zu deinem Projekt “Schreiraum”? 

Nicole Weniger: Ich stellte mir die Frage: Welche Freiheit hat man in der Stadt? Wo findet Verhalten Platz, das sich nicht an die Konventionen des öffentlichen Raumes hält? Einfach mal laut drauf losschreien kann befreiend wirken, wird in der Stadt aber eher ungern gesehen bzw. gehört und somit auch nicht gemacht (außer in gewissen Zuständen natürlich). 
Weiters fand ich Reaktionen auf Kunst im öffentlichen Raum interessant, da diese oft vandalistisch sind. Anscheinend besteht ein Drang, Aggressionen im öffentlichen Raum besonders an Kunstwerken abzulassen. Ich wollte eine Arbeit machen, die der Frage nachgeht: Welche Funktion hat Kunst im öffentlichen Raum? Welchen räumlichen Bezug stellt die Arbeit her und wie interagiert sie mit den PassantInnen? 
Im Schreiraum haben die PassantInnen somit die Möglichkeit sich auf simple, aber effektive Art ihrer angestauten Gefühle zu entledigen, und für ein paar Augenblicke aus dem Stadtgeschehen auszubrechen, ohne dieses zu verlassen. Nicole Weniger - Screaming roomWas ist dein Gedanke dahinter?

Wichtig ist mir diese Verlagerung von den Schreien an einen anderen Ort und der Perspektivenwechsel, der im Schreiraum stattfindet. Betritt man den Raum steht man vor einer Live-Projektion, die die Aussicht von einem Berg in Innsbrucks näherer Umgebung zeigt. Man steht im übertragenen Sinne auf dem Gipfel, mit Blick auf das Bergpanorama. Der Schrei wird dann live am Gipfel abgestrahlt und hallt im Schreiraum als Echo zurück. Es wird eine Verbindung zwischen zwei Orten hergestellt. Zum einen befindet man sich im Schreiraum in einem intimen, von der Umwelt geschützten Raum, zum anderen wird der Schrei am Gipfel laut ausgestrahlt. Die Natur wird mitten in die Stadt gebracht, und ist somit über abgekürzten Weg erfahrbar.

Was haben die Menschen denn in den Raum geschrien?

Vorwiegend positive Sachen. Ich hab die Schreie alle aufgenommen und hab schon ein bisschen in die Aufnahmen hineingehört. Von Wut bis Freude ist da alles dabei. Sobald die Leute erkannten, dass ihre Schreie live am Berg ausgestrahlt und vielleicht von Wanderern etc. gehört wurden, wurde es spannend. Da kamen dann schon auch mal so Ausrufe wie: „Hey du, hier ist Gott, ich seh’ dich!“ Aber größtenteils waren es weniger konkrete Sätze, die geschrien wurden, sondern eher animalische “Urschreie”. 

Was oder wie waren denn die Reaktionen auf den Schreiraum?

Die Reaktionen waren enorm. Die meisten hätten den Schreiraum am liebsten bei sich zu Hause. Der Andrang war sehr groß. Manchmal musste man sich sogar anstellen, um rein zu kommen. Es gab BesucherInnen, die mehr als 10 Minuten im Schreiraum waren und welche, die mehrmals in der Woche vorbei kamen. NicoleWeniger - SchreiraumWird der Schreiraum weiter wandern? – Kann er auch ausgeliehen werden?

Der Schreiraum wurde für einen öffentlichen Platz konzipiert. Sollte ich die Möglichkeit haben ihn noch anderswo aufzustellen, sollte dies auch ein allgemein zugänglicher Platz sein. Angedacht ist, dass er im Frühjahr in Graz aufgebaut wird. Das Ganze ist technisch recht aufwendig. In Innsbruck funktionierte die Übertragung dank Unterstützung von der ORS und der IKB über Richtfunk, Glasfaserleitung und W-lan. Ich könnte mir auch vorstellen, den Schreiraum, in einer etwas abgewandelten Version, dauerhaft in Innsbruck aufzustellen.

Was ist dein Anspruch an die Kunst? Was versuchst du mit deinen Projekten zu bewirken? – bei Menschen, Umgebung usw.

Mit meinen künstlerischen Arbeiten reagiere ich auf räumliche Situationen. Wie entstehen Räume durch soziales Handeln und wie ist dieses Handeln wiederum von räumlichen Strukturen geprägt? Die Stadt ist dabei ein sehr spannenden Forschungsfeld. Viele meiner Arbeiten wurden durch städtische Phänomene inspiriert. Sei es Verbote, die die Stadt vorgibt, oder die Diskrepanz zur Natur. Als Künstlerin nehme ich vorerst eine beobachtende Rolle ein, um später performativ oder installativ mit dem Gesehenen zu interagieren. Arbeiten im öffentlichen Raum finde ich spannend, weil diese den elitären Charakter der Kunst auflockern und es ermöglichen, mit anderen Kriterien zu arbeiten. Für meine Performances sehe ich den öffentlichen Raum als Bühne und die Stadt als Landschaft. In Tier-Performances geht es z. B. um Tiere, die in die Stadt immigriert sind und dort versuchen sich den Stadtraum auf absurde Art und Weise anzueignen. 
Ein humorvoller Ansatz ist mir wichtig, da ich dies als Methode ansehe, ernstere Themen künstlerisch  anzusprechen. Reaktionen über das in Europa diskutierte Burka-Verbot zeigt meine in Istanbul entstandene Fotoserie “Guess what I wear under my Burka“.

Mehr über die Künstlerin und ihre Projekte gibt’s hier: www.nicoleweniger.com
Fotos: Nicole Weniger

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