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December 5, 2020
Aufzeichnungehen 06_Gehen: ziellos
Allegra Baggio Corradi
Kunigunde Weissenegger
Ich habe erklärt, dass einer, der geht, länger lebt. Dass er über ein besseres Erinnerungsvermögen verfügt. Das der Blutdruck sinkt. Dass man seltener krank ist. Aber jedes Mal, wenn ich es sagte, wusste ich, dass es nur die halbe Wahrheit ist. Gehen ist selbstverständlich etwas viel Größeres als das Aufzählen von Pluspunkten, die man in jeder Werbung für Vitamine lesen kann. Was steckt also wirklich dahinter? [...] Ich glaube, wir alle haben unsere eigene Antwort. Sollten wir zwei eines Tages nebeneinander hergehen, werden wir dabei unterschiedliche Erlebnisse haben. [zit. aus „Gehen. Weiter gehen“, S. 19–20, Erling Kagge]
Bewegt sein: „Norwegisch røre sig und bevege sig bedeuten „sich bewegen“ und „sich rühren“ und bli rørt und bli beveget „bewegt sein“ und „gerührt sein“.
Die andere Hälfte der Wahrheit ist, dass man nur irgendwo ankommt, wenn man kein Ziel vor Augen hat. Mit anderen Worten: Nur über Umwege oder Fehler schlägt man die richtige Richtung ein. Es wird schon stimmen, dass das Gehen Gedächtnis, Leben, Blutdruck und so weiter beeinflusst, aber manchmal ist auch gut, einfach NICHT zu wissen, wo, wann, wie oder warum, mensch an einen Punkt kommt. Wir müssen nicht immer haargenau wissen, was wir tun, um unseren Handlungen einen Sinn zu geben. Wenn wir das Bedürfnis haben, etwas tun zu müssen, sollten wir es einfach tun.
Die andere Hälfte der Wahrheit können wir irgendwie als Traum definieren. Damit ist das Gehen in eine Richtung eines bewussten oder unbewussten Wunsches gemeint. Ziellos zu gehen ermöglicht uns ein bedächtiges Verstehen im Angesicht der eigenen inneren Stille, ein Ergründen unserer von der Umwelt beeinflussten Empfindungen sowie der Motive, warum wir bleiben oder abhauen wollen.
Ohne definiertes Ziel durch die Stadt zu gehen bedeutet, unbewusst ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart zu erleben und eine eigene, persönliche Geografie des urbanen Raumes zu zeichnen, ohne sie bewusst zu beobachten. Nur auf diese Art und Weise werden wir in der Lage sein, uns „in unserer Stadt“ zu orientieren und nicht nur „in der Stadt“. Nur so werden wir uns „unsere Orte“ merken und nicht nur „Orte“. Zielloses Gehen ist die einzige Möglichkeit, uns die Welt zu eigen zu machen und in ihr herumzuschweifen – unabhängig von ihrer formalen Beschaffenheit, wie ihren Häusern, Straßen, Gebäuden, Bewohner*innen, Geräuschen, Gerüchen, Leiden, Freuden, sondern bloß abhängig von den Elementen, die uns wichtig erscheinen. Wie oft ist es euch passiert, dass ihr euch an den Namen einer Straße erinnert, die ihr rein zufällig lang gelaufen seid und auch nur kurz angehalten habt, an einen anderen Namen hingegen nicht, obwohl ihr jene Straße vielleicht sogar öfters besucht habt?
Danken: „Zwei ungeschriebene Regeln sollte man stets versuchen einzuhalten: Erstens: Sei freundlich. Zweitens: Hinterlasse eine Hütte, wie du sie vorgefunden hast. Das Einzige, was du hinterlassen musst, ist Dankbarkeit.“
Im Winter 2005 war ich mit einem Freund in Kopenhagen. Eines Morgens waren wir auf dem Weg zum Rathausplatz. Es war bitterkalt, und wie gewöhnlich um diese Zeit standen ein paar Obdachlose vor dem Bahnhof und froren. Einer von ihnen kam auf mich zu, um mir die Obdachlosenzeitung Hus forbi zu verkaufen. Der Verkäufer bekommt die Hälfte der Einnahmen. Wir hatten Zeit, blieben stehen und unterhielten uns mit ihm. Er fror und schimpfte auf die Gesellschaft, die ihn seiner Ansicht nach im Stich gelassen hatte, aber dennoch hatte er gute Laune. Ich hatte keineswegs das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, eher im Gegenteil, aber wie so oft, wenn ich Menschen kennenlerne, überraschte es mich, wie ähnlich wir uns waren – in der gleichen Ecke der Welt geboren, neugierig, mit ähnlichem Humor und ungefähr gleichaltrig –, obwohl wir vollkommen verschiedene Leben führten.
Ich kaufte eine Ausgabe der Obdachlosenzeitung. Auf den ersten Seiten gab es einen Artikel über Träume – und darüber, wie schwer wir uns tun, unsere Träume in Worte zu fassen, und wie wichtig es ist, es dennoch zu versuchen. Der Artikel beschrieb eine Untersuchung, bei der viele obdachlose Drogenabhängige nach ihren Träumen befragt worden waren. „Was ist dein Traum?“ Die meisten antworteten, sie hätten überhaupt keine Träume. Ich verstand gut, warum jemand in ihrer Situation es so empfand. Ich finde es hin und wieder auch schwierig, die eigenen Träume zu konkretisieren. Aber es war der letzte Satz des Artikels, der sich tatsächlich bei mir festsetzte: Oh, ja, du träumst. Träum weiter, sei so nett. [zit. aus „Philosophie für Abenteurer“, S. 169, Erling Kagge]
Ist es euch auch schon mal passiert, dass ihr an einem bestimmten Ort mit jemandem telefoniert habt, Wochen später diesen Mensch wieder getroffen habt und euch jener Ort wieder in den Sinn gekommen ist? Nicht nur der Ort, sondern auch sein Name. Es besteht ein großer Unterschied, ob wir uns an einen Ort erinnern oder ob wir auch seinen Namen kennen. Es lässt sich mit einer Person vergleichen, die eigentlich nur eine Bekannte ist, von der wir den Namen nicht wissen. Der Name fasst das Wesen des Ortes zusammen und zeigt uns seine Bedeutung für uns auf. Und vielleicht existiert dieser Ort, so wie wir uns an ihn erinnern, in Wirklichkeit auch nur in unseren Träumen. Und natürlich kann man träumen. Oh, ja, du träumst. Träum weiter, sei so nett. Das ist die andere Hälfte der Wahrheit. Das ist der Traum. Sich verändern: „Damit alles, was uns umgibt, nicht nur schön ist, sondern auch erhaben, muss sich in unseren Köpfen ein Wandel vollziehen.“
Erling fragte sich, ob er auch andere, neue und zufällige Begegnungen mit Menschen und Orten machen könnte, von denen er noch nicht wusste, dass sie existieren. Und so beschloss er, sich freiwillig zu verirren und spielte das Spiel, das er mit seinen Töchtern jede Nacht vor dem Schlafengehen mit einem Buch spielte und dessen Bedeutung er nie wirklich verstanden hatte. Er gestattete sich den Luxus, wieder Kind zu sein, wenn auch nur für kurze Augenblicke, nahm ein x-beliebiges Buch zur Hand, schlug es irgendwo auf und begann zu lesen.Reagieren: „Gehen kann ein Leben lang dauern. … manchmal geht man in eine Richtung und kehrt dann wieder zum Ausgangspunkt zurück.“
Es gibt viele gute Gründe, um zu gehen, statt zu fahren, oder über das Meer zu segeln, statt zu fliegen. Es ist bereichernd, durch eigene Energie zu einem Ort zu gelangen und etwas über die Zeit zu erfahren, anstatt einfach nur zu dem Bestimmungsort zu hasten. Ich glaube, wenn das Orakel von Delphi im antiken Hellas per Telefon erreichbar gewesen wäre, die Menschen hätten dennoch den Parnass überquert, um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Es ist etwas anderes, den Berg zu besteigen, die Aussicht zu genießen und in gewisser Weise zu spüren, wie der Himmel sich öffnet. Ich glaube, die meisten Menschen, die in die Berge gehen oder sie bestiegen haben, verstehen, warum die Götter ihren Ursprung gern gerade dort haben. Außerdem glaube ich, dass die Griechen es auch schätzten, sich zu verausgaben. Für mich ist sich verausgaben jedenfalls ein Ziel an sich. [zit. aus „Philosophie für Abenteurer“, S. 169, Erling Kagge]
Sich zu verausgaben bedeutet für Erling nicht nur körperlich atemlos und erschöpft am Boden zu liegen. Verausgabung bedeutet auch, sich freiwillig auf etwas Unbekanntes einzulassen. Die Konfrontation mit Neuem beschäftigt den Geist auf dieselbe Weise wie das Physische. Der Aufstieg auf den Everst kann genauso verausgaben wie beispielsweise das Lesen eines Textes in einer fremden Sprache.
Mit dem Wörterbuch in der Hand schritt Erling auf und ab und wiederholte ein fremdes Wort um das andere, übersprang manche, die vertraut schienen, suchte sich besonders lange und schwierige aus. Dieses ziellose schwärmen durch die Fremdwörter erschien ihm wie ein Sich-Verirren und Wiederfinden in einer Stadt. Erschöpfend und befriedigend zugleich. Und er verstand.
Als Abenteurer denke ich oft, dass niemand etwas wirklich sicher wissen kann. Ich weiß nicht, welche Gipfel plötzlich auftauchen können, die ich aus freien Stücken oder unter gewissem Druck besteige – oder ganz einfach darauf pfeife. Ich glaube, die Träume und die Neugierde auf die Welt um mich herum halten mich in Bewegung, egal, wo ich mich befinde und welchen Weg ich wähle. [zit. aus „Philosophie für Abenteurer“, S. 169, Erling Kagge]
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