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August 22, 2020

Anleitung zum Waldspaziergang #08: Der bedrückende, bedrohliche Wald

Kunigunde Weissenegger
Begleitet uns ein letztes Mal in die Museion-Ausstellung „unlearning categories“, kuratiert von BAU (bis 23.08.2020). Alle Kunstankäufe (2012–2018) der Südtiroler Landesabteilung für Deutsche Kultur versammelt die Publikation „Arbeiten – Lavori in corso II“. Durch die Vielfalt der 150 Positionen von 100 Künstlerinnen und Künstlern begleitet unsere Waldspaziergangsserie. Und los!

Willkommen zurück! Ein letztes Mal kannst du dich aufbäumen, in diesen Wald greifen, an Moosen, Flechten und Farnen vorbeistreifen. Bäume fassen, drücken, pressen. Wie fühlt sich dieser Wald an? Wie betrittst du ihn? 

«Atmen heißt, Welt werden, in ihr aufgehen und unsere Form wieder abzeichnen, und das immer wieder aufs Neue.» [1]

Wünsch dir einen Wanderstock, damit du besser fühlen kannst. Wünsch dir einen Wanderstock, damit du nicht alleine bist. Wünsch dir einen Wanderstock, weil er dein Begleiter ist. Dein einziger. Fass ihn fest.

Er ist genau der Richtige, deine Sehgewohnheiten in Frage zu stellen. Sobald du meinst, ein Motiv zu erkennen, klarer zu sehen, schnalzt er, schiebt das trockene Laub beiseite und zeichnet ein Fragezeichen in den feuchten Boden vor dir.
[Stefan Alber, Stock, Photo, Geometry (Color) 01, aus der Werkgruppe Stock, Photo, Geometry, 2014]bastone Wanderstock

Diesen Beistand kannst du gebrauchen. Die Bergschuhe kannst du diesmal zuhause lassen. Auf leisen Sohlen solltest du dich bewegen und über Wege schleichen, damit du nicht zu sehr auffällst.

Gestalten kriechen über liegendes Gestämm.
Gestalten krabbeln über moosiges Gestrüpp.
Gestalten schälen sich aus den Schatten.
Gestalten walten über’s Unterholz.

Bist du konzentriert? 

Es braut sich zusammen. Es fällt über dich herein. Fühlst du dich bedrängt? Fühlst du dich bestürmt?
[Julia Bornefeld, PADS III, aus der Serie Pads and Morphic Fields, 2015–2016] 

«Der Sturm reißt nicht nur Blätter und Zweige, sondern auch Äste oder Gipfel ab.» [2]

Stirbt er? Sprießt er? Wie alt ist er?
[Christian Reisigl, Waldstück 5, 2015]

Im Boden wühlt er und furcht. Modelliert die Erde neu. Versetzt Steine. Legt Brücken, wo keine hingehören.
[Jörg Hofer, Erdrutsch, 2012–2013]

cestino Korb

Kein Regenbogen, kein Schutzschild, nur dein Korb in der Hand. Den du über dich hältst wie einen Helm. Licht dringt keines nach unten, es blitzt und leuchtet aber. Es töst. Es kracht.

Dir zeigt sich eine Landschaft, zerfurcht und geschunden. Fast hast du Mitleid und fragst dich, wie das bloß auszuhalten sei? Du versuchst dich abzulenken.
[Michael Höllrigl, Studie zu Jenn, 1993]

«Ist es nicht wunderbar, wenn ein so fragiles Flattergeschöpf wie ein Schmetterling mirnichts dirnichts einen großen Kahn in die Existenz rufen kann, auf dem eine ganze Reisegesellschaft Platz findet?» [3]

Alles dunkel. 

Klein kommst du dir vor. Siehst du den Steg? Er könnte die Rettung sein. Hinaus. Weg von hier. Weg von dir.
[Hans Knapp, Schlaf – Tod – Brüder, aus dem Projekt Tholos, 2002–2011]

Wenn du bereits bist, kann es wie eine Reise in ein unbekanntes Land werden.
[Trull Oberrauch, Alte Bäume, 2014] 

Check die Lage. Komm zu dir.

Anstrengend und aufreibend.
Kurz und schmerzlos.
Erbricht er dich.
Wirft dich aus. Und du fällst ins Nichts.

Und gehst deines Weges, gedankenversunken, sinnierend und still.
[Ivo Rossi Sief, Ohne Titel, aus der Serie Die Bilder der Stille – von der großen unendlichen geistigen Größe und der menschlichen Ohnmacht, 2014]

Museion Waldspaziergang 08 passeggiata 

Graphic design by Claudia Gelati

[1] Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt – Eine Philosophie der Pflanzen, Hanser, 2018
[2] Ludwig Jost, Fritz Overbeck, Baum und Wald, Springer, Berlin, Göttingen, Heidelberg, 1952]
[3] Sibylle Lewitscharoff, Fieger, Krabbler, Kriechlinge, marbachermagazin 168, 2019, Stuttgart 

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