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March 20, 2017
Das Fremde in uns: „heimat – irgendwo“ von Verena Kammerer
Christine Kofler
Titel: heimat – irgendwo. Texte mit Zeichnungen illustriert.
AutorInnen: Verena Kammerer (Zeichnungen) und viele andere, etwa Tone Avenstroup, Sabine Gruber, Hendrik Jackson, Sepp Mall, Friederike Mayröcker, Markus Vallazza, Peter Wawerzinek, Ulrich Ziegler.
Darum geht’s: Um Tiere. Um Menschen. Und um die Heimat des Menschen im weitesten Sinne.
Zeichnung von Verena Kammerer, “Heimchen”, 2014.
Lieblingszitat: Das Vieh, o doch, diese Bezeichnung hat sich der spinnerte Vogel verdient, darf sich frei bewegen und flattert überall hin, verwüstet meine Schreibbude systematisch. (…) Die böse Drohne fliegt Scheinangriffe auf mich und die Schreibmaschine, schaukelt die Vorhänge hin und her, bis die sich aus ihren Halteklammern lösen, reißt mit ihrem Schnabel Löcher in sie, fetzt die Tapeten in Streifen, macht sich über meine arme Zimmerpflanze her, zupft sie Blatt für Blatt zugrunde, knabbert genüsslich die eingegangenen Reste, scheißt zum Dank überall hin, wirft um, was ihren Anstürmen nicht widersteht. (…) Ich sitze unter Kopfhörer und Helm, Attacken und Gekreische zu entkommen. Der Vogel ist so tierisch laut, dass es bei den Meerschweinchen zu Fehlgeburten kommt. – Aus: „das mistvieh“ von Peter Wawerzinek
Riecht… nach dem Angstschweiß Kafkas und den Tränen Gregor Samsas, als er, ausgestoßen von seiner Familie, stirbt.
Schön: Die unheimlich suggestiven Zeichnungen und die Erzählungen und Gedichte verschiedener AutorInnen ergänzen sich wunderbar.
Weniger schön: Nichts. Ein rundum gelungenes Buch. Doch: Die überdimensionalen Insekten (Mistkäfer, Schlammfliege, Erdhummel, Heimchen, Bohrfliege, Maikäfer, Heuhüpfer …) im Schoße der im Buch wohnenden „Erwachsenenkinder“ (Kinderkörper + Erwachsenengesichter) machen mir Angst. Aber das ist vielleicht auch gut so? – Das ist gut so!
Unbedingt lesen, wenn… du das Unheimliche und die Überraschung liebst. Und du dich nicht entscheiden kannst: Bildende Kunst oder Literatur?
Gut für… Tage, an denen man glaubt, das Abenteuer liegt zig Flugstunden entfernt. Nein, nein – es liegt in uns.
Resümierend: Das Kompendium aus Zeichnungen, Prosa und Poesie kehrt das Heimelige des Heims ins Unheimliche. Die Vielfalt der Texte, vom experimentellen Gedicht Friederike Mayröckers bis hin zur lustigen Kurzgeschichte von Peter Wawerzinek, bildet ein wunderbar freies Gegenstück zu den zwischen 1997 und 2016 entstandenen Zeichnungen, die stets dasselbe Sujet zeigen und mit derselben Technik (Kugelschreiber auf Papier) gefertigt sind. Sowohl die Zeichnungen als auch die Texte könnten für sich allein stehen, zusammen ergeben sie einen ganz neuen atmosphärischen Kosmos. Verena Kammerer schreibt im Nachwort: „Diesen Zeichnungen wollte ich eine Heimstatt geben.“ – Schön, dass sie nun jeder ab und zu besuchen kann.
Seitenzahl, Verlag, Jahr, Preis: 174 Seiten, Edition Raetia, Bozen 2017, 19,90 Euro.
Fotos: franzmagazine
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