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May 13, 2024
Eine Einladung zum Weiterdenken. Acht Fragen an Tanja Raich, Herausgeberin von „Frei sein“
Verena Spechtenhauser
Die gebürtige Lananerin Tanja Raich ist eine der wichtigsten weiblichen Stimmen der aktuellen deutschsprachigen Literatur- und Verlagswelt. Als Lektorin, Autorin und Herausgeberin lebt sie seit Jahren in Wien, wo sie zuerst beim Verlag Kremayer & Scheriau tätig war und nun das Literatur- und Kinderbuchprogramm des Leykam Verlags leitet. In ihren Texten beschäftigt sich Tanja Raich immer wieder mit Themen großer gesellschaftlicher Relevanz. So etwa in ihrem Erstlingswerk „Jesolo“ (Karl Blessing Verlag, 2019), mit der Frage, ob und wie weit sich eine Frau selbst aufgeben muss, wenn sie (ungewollt) Mutter wird.
Zuletzt machte sie mit dem auf Zeit Online erschienenen autobiografischen Text „Dieses Mal habe ich ihn angeschrien“, auf sich aufmerksam, der Erfahrungen sexueller Übergriffigkeit thematisiert und binnen kürzester Zeit viral ging. Den Finger in die Wunde unserer Gesellschaft legt sie auch als Herausgeberin: Nach „Das Paradies ist weiblich“ (Kein&Aber Verlag, 2022) feierte im März nun ihr zweiter Anthologieband „Frei Sein“ (Kein&Aber Verlag, 2024) sein Erscheinen und fand – wie zuvor schon ihr zweiter Roman „Schwerer als das Licht“ – einen direkten Weg auf den Lesestapel unserer Redaktion. Wir haben mit Tanja Raich über ihr neuestes Werk gesprochen.
Liebe Tanja, soeben hast du in der Rubrik „10 nach 8“ auf „Zeit Online“ einen Text über deine persönlichen Erfahrungen als Frau in unserer patriarchalen Gesellschaft veröffentlicht. Dein Text ist in den sozialen Medien auf großen Anklang gestoßen. Viele Leserinnen haben sich in deinen Zeilen wiedererkannt (ich übrigens auch). Hast du mit dieser Resonanz gerechnet?
Mit so einer Resonanz hatte ich nicht gerechnet, zeigt aber, wie groß das Problem ist.
Auch bezugnehmend auf den oben genannten Text: Was bedeutet Frei Sein für dich? Wann/wie/wo fühlst du dich frei? Und – wenn ich mir die Frage erlauben darf – wie frei bist du wirklich, auch als Frau?
Ich würde sagen, dass ich mich persönlich durchaus frei fühle, im Alltag und auch beruflich. Ich darf meine Meinung frei äußern, Bücher veröffentlichen und verlegen, ohne Zensur zu erfahren. Das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich, in vielen Ländern werden bereits Bücher verboten, z. B. Bücher mit queeren Inhalten – darüber schreibt Linus Giese – oder Bücher, die der türkischen Regierung nicht passen – darüber schreibt Çiğdem Akyol. Auch als Frau würde ich sagen, dass ich mich meistens frei fühle. Allerdings gab es viele Situationen in meinem Leben, in denen ich realisiert habe, dass es auch gefährlich werden kann. Beruflich ist vieles mit Kämpfen verbunden, die mich über die Jahre ermüden. Und das Erstarken der Rechten, deren rückwärtsgewandte Politik, die Frauen- und Queerfeindlichkeit, die Hetze gegenüber Geflüchteten, die Abschaffung des Abtreibungsrechts und die Diskussionen darum – auch in Italien (seit kurzem dürfen Abtreibungsgegner*innen Abtreibungskliniken betreten) – das alles stimmt mich nicht sonderlich optimistisch.
Warum ist das Frei Sein, wie es der Untertitel deines Buches suggeriert, unser höchster Wert?
Ich denke, dass im Wort Freiheit auch Gleichberechtigung und Selbstbestimmung steckt. Wären wir frei in unserem Tun und Sein, dann gäbe es auch kein Patriarchat, keinen Rassismus, keine Trans- und Homofeindlichkeit, keinen Ableismus, dann könnten alle Menschen so sein, wie sie sind. Freiheit bedingt alles andere.
Gibt es einen Unterschied zwischen Frei Sein und Freiheit? Worin liegt dieser deiner Meinung nach?
„Frei sein“ meint für mich mehr die persönliche Ebene, wohingegen beim Begriff Freiheit die politische Dimension mitschwingt. Frei sein können wir auch im Moment, aber haben wir dadurch Freiheit für die gesamte Gesellschaft erlangt?
Du hast im Buch insgesamt 19 ganz unterschiedlichen Stimmen eine Plattform gegeben. Die Texte unterscheiden sich meiner Meinung nach sehr in ihrer Intensität. Nach welchen Kriterien hast du die Autor*innen ausgesucht?
Ein Buch wie dieses ist ein längerer Prozess, ich habe versucht, möglichst unterschiedliche Stimmen und eine Vielfalt an Perspektiven und Themen zu versammeln. So sind etwa auch Pornowissenschaftlerin Madita Oeming und Millionenerbin Marlene Engelhorn vertreten. Mir war es wichtig, mit allen Autor*innen Themen zu finden, die sie persönlich besonders bewegen und beschäftigen. Wir lesen also Texte über eine Fahrt ins Weltall, über das Ballett, über die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei, über die Hoffnung und die unterschiedlichen Nuancen, die das Wort Freiheit mit sich bringt. Am Ende wird immer noch vieles fehlen, aber das Buch sehe ich als Einladung, weiterzudenken, und ich hoffe, dass jede*r Leser*in das Buch weiterspinnt und über viele weitere Themen und Aspekte der Freiheit nachdenkt und spricht.
Welcher der Texte hat dich am meisten überrascht und warum?
Jeder Text hat mich für sich bereichert, hat mir neue Perspektiven geöffnet, mich zum Lachen und Verzweifeln gebracht, es sind Texte, die nachdenklich machen, wie es um unsere Freiheit steht. Vielleicht hat mich überrascht, wie sehr Freiheit auch immer mit Unfreiheit verbunden ist. Sei es in Bezug auf Arbeit, Klasse, Konsum, Queerness, Sex oder Protest. Sehr erfrischend liest sich Sophia Süßmilchs „Plan für keine bessere Welt“.
„Frei sein“ist nach „Das Paradies ist weiblich“ deine zweite Anthologie. Was magst du, was beeindruckt dich an dieser Publikationsform?
Anthologien herauszubringen, ermöglicht es, den Blick zu weiten. Ich finde es spannend, eine Frage weiterzugeben und mit einem Reichtum an Perspektiven daraus hervorzugehen.
Schreibst du gerade selbst an einem neuen Roman?
Derzeit mache ich eine Schreibpause und spinne erste Gedanken über ein mögliches neues Buch.Fotos: Tanja Raich (c) Minitta Kandlbauer; Tanja Raich, Frei Sein (c) Kein&Aber
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