Culture + Arts > Architecture
November 26, 2021
Wenn unbeachtete Baukunst endlich Interesse findet: Forgotten Architecture
Kunigunde Weissenegger
Raschen Schrittes eilen wir oft durch die Stadt, Vororte, Viertel, Straßen, Alleen, gesäumt von Häusern, Bauten, hohen und niederen, grauer und bunter Architektur. Einen Gegenpol hat „like chewing gum on asphalt“ – ein Gemeinschaftsprojekt von Foto Forum, Antonio Dalle Nogare Stiftung und Bolzanism Museum – erzeugt und sich über einen Workshop für urbane Fotografie auf Entdeckungsreise in die Viertel von Bozen West gemacht. Heute, Freitag, 26. November, findet um 19:30 Uhr in der Antonio Dalle Nogare Stiftung die Finissage der Ausstellung statt.
Zu diesem Anlass ist eine eingeladen, die sich ebenfalls intensiv mit unserem Blick auf Architektur beschäftigt: Bianca Felicori, Architektin, Forscherin und Autorin für Domus, Artribune, ElleDecor Italia sowie ADItalia, holt mit „Forgotten Architecture“ vergessene Architektur ans Licht. Im Gespräch (in italienischer Sprache) tauscht sie sich mit Bolzanism Museum aus und unterhält sich über andere, neue Möglichkeiten und Herangehensweisen Architektur(geschichten) zu erzählen.
Bolzanism Museum ist das erste Museum in Italien, das sich dem soziale Wohnbau und seinen Bewohner*innen widmet, und aktiviert und vernetzt beide über Storytelling mit interessierten Besucher*innen – damit Außenbezirke wieder in den Mittelpunkt rücken und Beachtung finden und die Bedeutung von sozialem Wohnbau für die urbane, soziale und kulturelle Stadtentwicklung unterstrichen wird.
Was genau Forgotten Architecture ist, haben wir Bianca Felicori gefragt.
Bianca, welche Faszination sollten denn Projekte von wenig bekannten oder unbekannten Architekt*innen ausüben oder unscheinbare Projekte haben, die im Schatten ihrer Meister stehen? – Wäre es nicht besser, sie „in der Schublade“ zu lassen, wo sie gelandet sind, weil sie es nicht verdienen, herausgeholt zu werden?
Wie in anderen Disziplinen gibt es auch in der Architektur eine Geschichte und Kritik, die definiert, was beachtet und was hingegen ignoriert werden sollte. In direktem Zusammenhang mit dieser Entwicklung hängt, was an den Universitäten gelehrt und besprochen wird. So fanden einige Bewegungen schlichtweg keine Beachtung und wurden im Gegensatz zu anderen – berühmten – einfach vergessen. Forgotten Architecture habe ich ins Leben gerufen, weil mich interessiert, wer von der Kritik und Geschichte ausgeschlossen worden und im Schatten geblieben ist, wer an bestimmten italienischen und internationalen Schulen gelehrt wurde und wer nicht. Denn jede Schule hat ihre eigene Architekturgeschichte, ihre Art sie zu erzählen und in gewisser Hinsicht einen Index, der nicht gezwungenermaßen überall der gleiche sein muss.
Was kennzeichnet die Projekte auf Forgotten Architecture?
Die Projekte sind sehr unterschiedlicher Natur: Es können einerseits Projekte von Architekt*innen sein, die nie Beachtung fanden – also sozusagen eine Neuentdeckung sind – oder bestimmte „kleinere“, „unscheinbarere“ Projekte von sehr berühmten Architekt*innen, die neben ihren großen Werken untergingen und weniger Beachtung fanden (wie eine Kirche, eine Tankstelle oder ein Mini-Appartement). Auf fällt, dass einige Projekte radikal, poppig und sehr bunt sind, mit revolutionären Formen – das ist besonders darauf zurückzuführen, dass die radikale, fantastische, utopische Architekturepoche damals in Italien, Europa und dem Rest der Welt, besonders den USA, unterschätzt wurde – und teils auch immer noch wird. Hier gibt es große Wissenslücken, die ich mit Forgotten Architecture füllen möchte.
Was hat dich dazu bewogen, vor mehr als 2 Jahren die Facebook-Gruppe zu gründen – die mittlerweile 30.000 (!) Mitglieder zählt?
Dazu bewogen haben mich meine Neugierde und mein Wissensdrang, Dinge kennenzulernen, die nicht auf der Uni gelehrt wurden. Genauer gesagt war es, als ich während einer Recherche im 3. Studienjahr auf Marcello D’Olivo gestoßen bin: Friulianer, Teil der Bewegung „organische Architektur“, wie Carlo Scarpa aus der Architekturschule Udine, aber total unbeachtet, weil er, kurz gesagt, sehr eigenbrötlerisch war und sein eigenes Ding machte.
Was war dein persönliches Forgotten-Architecture-Highlight?
In diesen letzten beiden Jahren hat sich für mich sehr viel verändert, ich habe viele interessante Menschen kennengelernt. Forgotten Architecture ist vor allem ein Gemeinschaftsprojekt – das zeigt, was sich gemeinsam alles bewegen lässt. Auf die Facebook-Gruppe folgten viele Projekte – u. a. auch für die Triennale in Mailand, jetzt auch das Buch und ein Dokumentarfilm für Sky Arte. Mein persönliches Highlight ist die Entdeckung eines Hauses von Ettore Sottsass Jr., entworfen für Arnaldo Pomodoro, von dem niemand wusste – nicht einmal seine langjährige Partnerin Barbara Radice. Diese Entdeckung zu machen, war sehr aufregend für mich – und auch befriedigend, weil es gelungen ist, auf dem Social Network über Kultur zu reden.
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