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April 20, 2012

n.c.kaser #05: Tian alle (im bürgerlichen Schneckenhaus)

die mitbewohnerinnen

Irgendwann kommt das Alter, wo sich gewisse Fragen aufdrängen. Eigentlich hat es wenig mit Alter zu tun. Diese Fragen sind schon da, wenn man klein ist. Sie beginnen leicht zu drücken, wenn man etwas älter wird, und führen einen nahe an Abgründe, wenn man im passenden Alter ist. Aber ob sie sich jemals wieder zur Ruhe betten, im vorgerückten Alter etwa, – darauf zu hoffen, wage ich nicht.
Es sind dies die klassischen Fragen des Lebens eben. Nein, nicht jene nach Gott, auch nicht jene nach den zu verfolgenden –ismen. Das 19. Jh. haben wir hinter uns gelassen (Ach! In der Tat?). Es geht um die Fragen, die sich dem Leben selbst stellen, gerade weil wir uns nun im 21. Jh. befinden und deshalb freier sind (Wirklich?). Zumindest freier in unserem Lebensentwurf. (Ach ja?)
Jedenfalls kam auch n.c.kaser in ein Alter, da hat er gesehen und sehen müssen, dass sein Leben bisher etwas anders verlaufen ist als jenes seiner gleichaltrigen Bekannten und Freunde. Dass Lebensentwürfe eben verschieden sein können, vorausgesetzt man beginnt überhaupt damit, das eigene Leben zu entwerfen und lässt es nicht von vornherein gleich bleiben.

Ein Brief an Mariatheres Neuhauser (flaas himmelfahrtstag 75):
(…) vor schulschluß werde ich kaum nach bruneck kommen. es verlangt mich auch wenig danach. was soll oder kann ich besonderes tun: in den kafeehaeusern sitzen  allein denn ich habe niemanden mehr der meine interessen teilt.. sind ja alle verheiratet doktorisiert verbeamtet  sind recht integriert: kinder frau & autosorgen.. was in bruneck mir an „kollegen“ geblieben ist hat sich bereits ein buergerliches schneckenhaus gerichtet (…)

Würden alle Datierungshinweise dieses Briefes wegfallen, könnte man beinahe davon ausgehen, dass es sich um eine rezente Gesellschaftsbeschreibung handelte. Heute hinzugekommen ist das Bewusstsein um die Sünde des Autos und dessen Neutralisierungsversuch durch Bioprodukteinkäufen und Nachhaltigkeitsgeklimper. Abgesehen von der evidenten historischen Verhaftetheit des Autos – sind Sesshaftwerdung (in geographisch wie beruflicher Hinsicht) und Familien- bzw. Beziehungsplanung universale Prinzipien menschlichen Daseins? Ist dies die Bestimmung des Menschen? Folgt er/sie hier dem unverfälschten, reinen Instinkt auf der Suche nach seinem Glück? Können er/sie hier seine biologische Vorherbestimmung festmachen (Reproduktionszwang eben, garniert mit etwas Liebe)? Ist dieser Weg also der einzig „natürliche“?

Lassen wir kaser mit seinem Brief fortfahren:
beneiden tu ich keinen.. bin mir selber gluecklich genug & viel zu stolz dazu. ich weiß noch immer nicht wer ich eigentlich bin aber daß ich wer bin weiß ich & daß ich tausendfach anders bin als sie. ich kann immer noch nicht sagen welchen beruf ich habe.. so recht zu nichts habe ich es gebracht  bin weder schriftsteller noch lehrer student ehemann koch verliebter  oder so  aber ich denke tagaus tagein  was man von den anderen wohl nimmer behaupten kann. (…)
oder in einem Brief an Erika Prader (flaas 121174)
(…) meinen mitschuelern war ich entweder als verschrobener streber zuwider oder als kasper gerade recht: sie sind allesamt nicht soweit gekommen wie ich. ihre wege sind verfahren  meine sind frei  ihre moeglichkeiten sind durch familiengruendung titel grade positionen haueuserbauen begrenzt  ich kenne keine grenze (…).

Man lernt Menschen kennen (tote oder noch lebendige) und somit auch andere Lebenswege. Man hat’s bereits geahnt, wär es purer, unbeirrter Instinkt gewesen, hätte sich die Möglichkeit des In-Frage-Stellens, des Reflektierens gar nicht erst ergeben. Also doch alles nur sozial-kulturelle Konvention. Nur? Immerhin hat es diese „Kleinigkeit“ geschafft, Jahrhunderte (Jahrtausende) in die von ihr gewünschten Bahnen zu lenken! Und diese Jahrhunderte (Jahrtausende) wiederum lenken uns in ihre Bahnen. (Wir sind eben doch noch Kinder des 18./19. Jahrhunderts.) Genau genommen hat dies keine in irgendwelcher Art personalisierte oder (noch schlimmer) impersonalisierte Konvention vorgenommen, sondern wir selber. Wir selbst sind es, die uns in diese vorgestapften Loipenlandschaften führen. [Ja, norbert conrad, ich weiß: Alles schon gedacht]
Das Problem aber stellt sich genau hier: man kann ja schlecht eine kulturelle Konvention abtun mit dem Argument, dass es sich eben um eine Konvention handelt. Damit ist deren Brauchbarkeit, deren Glückseligkeit nicht aus den Angeln gehoben. Es wird doch wohl einen Grund geben, fragt man sich, weshalb die Mehrheit (die absolute, wage ich zu behaupten) dieser Lebenswegkonvention folgt, und das, obwohl sie nur Konvention ist und wir ja schließlich frei. Mit dem kaserschen Vorwurf eines Denkstillstandes jedenfalls macht man es sich etwas zu einfach…
Fragen. Fragen, die jedwede Beschreitung auch nur irgendeines Weges aufgrund lähmend-mentaler Labilität unmöglich machen. Weil man abgesehen von den Antworten auf Fragen auch die Fragen an sich be- und hinterfragen müsste, und dann wiederum deren Antworten etc.

Einzig möglich dem Fragenlabyrinth zu entgehen ist, man folgt ohne zu fragen den gängig-konventionellen Lebensentwürfen, diese verheißen nämlich eines ganz gewiss: Stabilität. Und Labile suchen ja bekanntlich nichts anderes.
Der antibürgerliche n.c.kaser war diesbezüglich auch nicht recht stabil. Als Mittelschullehrer in Laas hat er seinen Schülern und Schülerinnen einen Aufsatz zum Thema „Zukunft“ schreiben lassen. Eine Schülerin schrieb: „Ich möchte drei Kinder ein Kätzchen und ein Hündchen. Ich möchte meinen Kindern eine gute Mutter werden und meinem Mann eine gute treue Ehefrau. Das wünsch ich mir für die Zukunft.“ kaser: geht in Ordnung! 7
Eine andere, normalerweise durchschnittlich gut benotete Schülerin schrieb: „Ich binde mich nicht allzu sehr an meinen späteren Beruf, sondern denke auch an Vergnügen. Ich werde jede Gelegenheit ausnützen, damit ich mich auch mit Sex und Liebe beschäftigen kann. Ich werde nur heiraten, wenn es ein besonders netter und sympathischer Mann ist (…)“
kaser vergibt eine kommentarlose Vier.

Zwiespältigkeit und Zweifel: vielleicht sind dies die Konstanten menschlichen Lebens. Und wenn wir sie als solche anerkennen oder zumindest aus dem negativen Werteapparat herauslösen könnten, dann würde sich eine Frage erübrigen: jene nach dem Lebensentwurf. Sie würde sich dann auf die Entwerfung des Tages reduzieren. Dies beruhigt. Man muss sich dann nicht mehr festmachen. Denn Tage gibt es viele, Leben wahrscheinlich doch nur eins.

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