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May 18, 2022
20 Jahre GOTS
Susanne Barta
Wer besser produzieren, besser einkaufen möchte, braucht Orientierung. Zu unübersichtlich ist der Markt. Nicht nur für Konsument*innen, sondern auch für viele Brands. Ein Großteil der Produktion ist ausgelagert, woher die Rohstoffe wirklich kommen, wissen die Wenigsten. Textilsiegel spielen eine wichtige Rolle auf dem Weg der Textilindustrie zu mehr Nachhaltigkeit, Fairness und Transparenz. Eines der renommiertesten ist der Global Organic Textile Standard. GOTS feiert heuer sein 20jähriges Jubiläum. 2002 fand die erste Arbeitsgruppe statt, bei der sich die vier Organisationen Organic Trade Association (USA), der Internationale Verband der Naturtextilwirtschaft (Deutschland), The Soil Association (UK) and die Japan Organic Cotton Association (Japan) für einen gemeinsamen Standard zusammentaten. 2006 wurde die erste Zertifizierung durchgeführt – bewertet werden ökologische und soziale Kriterien. Eine 100%ige Garantie gibt es nicht, dass das, was versprochen, sprich zertifiziert wurde, auch immer stimmt. Das haben zuletzt wieder Betrugsfälle bei der Bio-Baumwoll-Produktion in Indien gezeigt. Die New York Times hat vor Ort recherchiert und ist dabei auf einige Ungereimtheiten gestoßen. Der Markt mit Bio-Baumwolle boomt – Indien produziert etwa die Hälfte der global verkauften Bio-Baumwolle –, aber ein nicht unbeträchtlicher Teil der zertifizierten Bio-Baumwolle ist, wie sich herausgestellt hat, gar nicht Bio. Im November 2021 hat die EU reagiert und einige Agenturen, die Kontrollen vor Ort durchführten und Zertifikate ausstellten, vom Prozess ausgeschlossen.
GOTS ist der weltweit führende Verarbeitungsstandard für Biofasern. Das Kontrollsystem beruht auf einer unabhängigen, von GOTS akkreditierten Zertifizierungsstellen durchgeführten Prüfung. Alle drei Jahre unterzieht GOTS seinen Standard einer Revision. Ich habe darüber mit Juliane Ziegler gesprochen, sie ist bei GOTS für Deutschland, Österreich und die Schweiz zuständig. Juliane hat Textilmanagement studiert und arbeitet seit drei Jahren für den Textilstandard. Juliane, woran arbeitet ihr gerade?
Wir sind wieder im Revisionsjahr. Der Prozess wurde ausgeweitet, um noch mehr Stimmen einbeziehen zu können. Das wird immer relevanter. Nun geben wir auch einzelnen die Möglichkeit, sich an diesem Revisionsprozess – es ist bereits der siebte – zu beteiligen. Aktuell sind wir in der Phase wo der Standard-Entwurf für öffentliche Konsultationen auf der Website freigegeben ist. Die bestehenden Kriterien werden weiterentwickelt und geschärft, wichtig ist dabei, die Industrie mitzunehmen, gleichzeitig die Standards nicht aufzuweichen. Das Thema Sozialstandards soll noch stärker integriert werden. Gedanken machen wir uns auch darüber, was nach der Phase des Gebrauchs der Produkte passiert. Wir sind ein Prozess-Standard, der am Beginn der Verarbeitungskette startet und auf der letzten Stufe, dem Handel, endet. Aber das Danach wird immer wichtiger, Stichwort Kreislaufwirtschaft. Außerdem arbeiten wir am Aufbau einer zentralen Datenbank, die eine Rückverfolgbarkeit der Lieferkette möglich macht.
Es gibt heute eine Fülle an Siegeln und Standards, viele Konsument*innen sind verunsichert. Wie agiert ihr da?
Das Thema Siegel-Dschungel wird immer wieder an uns herangetragen. „Worauf kann man sich am Ende noch verlassen?“, diese Frage stellt sich natürlich. Wir sehen unsere Aufgabe darin, Konsumenten noch besser abzuholen, GOTS in der Vermarktung bekannter zu machen und genau zu erklären, was wir machen. Wir launchen dieses Jahr dazu eine große Verbraucherkampagne mit Videoclips. Auch mit der Frage, ob es denn alle diese Siegel brauche, ob man nicht alles zusammenfassen könnte, werden wir konfrontiert. Bisher ist das nicht lösbar. Die Siegel haben unterschiedliche Schwerpunkte und Ziele, insofern auch ihre Daseinsberechtigung. Das, was es aber braucht, ist mehr Aufklärungsarbeit. In der Lebensmittelindustrie ist man da schon weiter, bei Textilien gibt es noch viel zu tun. Die Lieferketten sind meist sehr komplex, das macht es nicht einfacher.Vor einiger Zeit ist ein Artikel in der New York Times erschienen, der sich die Bio-Baumwoll-Produktion in Indien vornimmt. Ein Teil der als Bio ausgezeichneten Baumwolle ist gar nicht Bio, hat sich da herausgestellt. Wie schützt ihr euch vor Betrug?
Wir haben natürlich ein Qualitätssicherungssystem, das wir auch regelmäßig evaluieren. Und dabei schauen, wo wir das System ausbauen und weiterentwickeln müssen. Wir sind Standard-Geber und arbeiten in der Prüfung mit akkreditierten Zertifizierungsinstituten zusammen. Sie gehen vor Ort in die Fabriken, schauen sich die Prozesse an und bewerten sie. Das Feld, also wo die Rohstoffe angebaut werden, ist nicht Teil unseres Akkreditierungssystem. Wir beginnen den Prozess auf der ersten Verarbeitungsstufe – bei der sogenannten Entkörnung, wo die Faser vom Samen getrennt wird –, verlangen aber für das Feld eine Zertifizierung nach anerkannten Bio-Standards. Zudem verlangen wir noch eine Prüfung des Rohstoffs auf GVO, auf genveränderte Organismen. In Bezug auf soziale Standards hat GOTS die Forderung zur Aufnahme der Prüfung von Sozialstandards auf dem Feld erfolgreich bei IFOAM Organics International eingereicht.
Einige der Agenturen, die Zertifizierungen in Indien vorgenommen haben, sind von der EU nicht mehr zugelassen. Wie reagiert ihr da?
Wir geben die Information an die Unternehmen weiter, dass, falls notwendig, der Zertifizierer gewechselt werden muss. Jedoch betrifft der Beschluss der EU die Zertifizierung auf dem Feld, die nach anerkannten Landwirtschaftsstandards vollzogen wird. Der Entschluss hat keinen Einfluss auf die Zertifizierung nach GOTS entlang der textilen Lieferkette. Aktuell arbeiten wir mit 18 akkreditierten Zertifizierern, die weltweit tätig sind. Sie müssen einen klar definierten Akkreditierungsprozess durchlaufen. Aber nicht nur sie, auch wir werden nochmals unabhängig bewertet. Es gilt das Sechs-Augen-Prinzip, um sicherzustellen, dass keine Entscheidung auf Grund von irgendwelchen Präferenzen getroffen wird. Wenn Zertifizierer nicht mehr zur Verfügung stehen, wird das auf bestehende Institute aufgeteilt. Außerdem begleiten und kontrollieren wir alle Prozesse auch intern durch unser Qualitätssicherungssystem. Braucht es mehr Transparenz entlang der Lieferkette und auch Klarheit darüber, was überhaupt möglich ist zu garantieren und was nicht?
Natürlich muss es realistisch bleiben, was man leisten kann und was nicht. Man kann nicht zu allen Farmern gehen und alles überprüfen, dafür wurden ja Systeme entwickelt, auch im Vertrauen darauf, dass sie funktionieren. Der Markt ist sehr groß und da gibt es Angriffsflächen, also Möglichkeiten zu betrügen. 2020 haben wir einen Betrug bei uns aufgedeckt, wo falsch ausgezeichnete Bio-Baumwolle in die GOTS Lieferkette kam. Wir haben sofort reagiert, die Ware zurückverfolgt, einige Firmen gebannt und Zertifizierer ausgeschlossen. Das Ursprungsland des Rohstoffs ist nun auch verpflichtend anzugeben. Die Brands sehen jetzt, woher ihr Rohstoff kommt.
Wichtig ist, dass wir unser System stetig überprüfen, wissend, dass es nicht 100 % wasserdicht sein kann. Dort, wo Gefahren lauern könnten, versuchen wir im Rahmen der Möglichkeiten gegenzusteuern. Aber auch für die Unternehmen ist es wichtig zu erkennen, dass sie selbst Verantwortung tragen. Der zitierte Artikel hat am Ende leider keine Lösungsansätze gegeben, das hat mir gefehlt. Die Nachfrage nach Bio-Baumwolle ist enorm gewachsen, jeder möchte sie, aber kaum jemand macht sich Gedanken darüber, was hinter dem Prozess steht. Wo soll der Rohstoff so schnell herkommen? Es braucht an die drei Jahre für einen Bauern von konventioneller Produktion auf Bio umzustellen. Man muss schauen, wie man die Farmer unterstützen kann. Was brauchen sie, wenn die Einkünfte weniger werden? Wie kann man sie gewinnen, dass sie dennoch auf Bio umstellen?Wer ist hier vor allem gefragt nachzubessern?
Beide Seiten der Kette. Aber die Unterstützung muss von Unternehmensseite kommen. Sie müssen Verantwortung übernehmen für die Produkte, die sie auf den Markt bringen wollen. Die Jahre des Übergangs von konventionell auf Bio sind für viele Farmer schwierig, die Betriebe sind zwar in Umstellung, aber ihre Rohstoffe sind noch nicht als Bio anerkannt. Wir nehmen sie nach zwölf Monaten in die GOTS Lieferkette auf mit dem Vermerk „in Umstellung“.
Nachhaltigkeitsaspekte sind heute für fast jedes Textilunternehmen ein Thema. Wo steht die Branche derzeit in deinen Augen zwischen ernsthaftem Anliegen und Greenwashing?
Ich finde es gut, dass es auch mal „Skandale“ gab. Kontroversen führen oft dazu, dass sich etwas verändert, vor allem schärfen sie das Bewusstsein. Wir sitzen ja doch alle in einem Boot, damit das System funktioniert, hängen wir alle voneinander ab. Das Thema Nachhaltigkeit ist da und wächst, auch wenn es zum Teil geradezu inflationär benutzt wird. Wünschen würde ich mir, dass Nachhaltigkeit in zehn Jahren gar nicht mehr thematisiert werden muss, sondern schon selbstverständlich ist. Dazu muss noch an vielem gearbeitet werden, es braucht auch entsprechende Gesetze.Der EU Green Deal wird da wohl einiges anschieben?
Es wird sich sicher einiges bewegen. Das sind jedoch immer noch Anfänge und Anstöße in eine Richtung, man kann noch viel verbessern. Aber für die Unternehmen ist jetzt schon klar, dass sie sich damit beschäftigen müssen.
Ihr seid ein Naturtextil-Standard, sind auch recycelte Materialien ein Thema für die Zukunft?
Wir bieten zwei Labelstufen an, beim einen müssen mindestens 70 % zertifizierte Naturfasern sein, beim anderen sind es 95 %. Als ergänzendes Fasermaterial zugelassen sind beispielsweise Recycling- oder Regeneratsfasern aus zertifiziert biologischen Rohstoffen. Wir schauen natürlich, wohin sich der Markt entwickelt, das Thema Recycling und Regeneratsfasern wird immer größer.
Wie geht es euch mit dem Thema Siegel und Zertifikate? Findet ihr euch zurecht? Worauf legt ihr Wert? Sind Zertifikate kaufentscheidend für euch?
Fotos: (1, 2, 4–8) © Global Standard gemeinnützige GmbH; (3) © Sonja Herpich
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