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August 14, 2024
Was kann der EU Green Deal im Bereich Textilien?
Susanne Barta
Die Politik muss handeln, sonst kommen wir mit dem, was zu tun ist, nicht mehr hinterher. Die Verfechter der Nachhaltigkeit in der Textil-/Modebranche setzen darauf, dass der Gesetzgeber die Brands dazu bringt, ihre Klimazusagen nicht nur einzuhalten, sondern entlang der gesamten Lieferkette ihren Verpflichtungen nachzukommen. Bevor es zu spät ist. Die EU geht mit dem Green Deal weltweit voran und hat auch eine eigene Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien vorgelegt. Das Gesetzespaket zur „Stärkung der Verbraucherinnen und Verbraucher im Grünen Wandel“ (EmpCo;) ist zum Beispiel bereits seit Ende März 2024 in Kraft und muss nächstes Jahr national umgesetzt werden. Hier geht’s vor allem darum, dass grüne Claims nicht mehr einfach so verwendet werden dürfen. Sind die Unternehmen darauf vorbereitet? Eher nicht, hört man von verschiedener Seite.
Welche Rolle wird der Green Deal unter den neuen Machtverhältnissen spielen? Wird es Verzögerungen und weitere Aufweichungen geben? Und was an der EU-Strategie ist für Unternehmen problematisch, vor allem für diejenigen, die bereits sehr viel besser produzieren als andere? Diese Fragen habe ich Dario Casalini gestellt, CEO der Turiner Traditionsmarke Oscalito und Gründer von Slow Fiber. Er kennt sich sehr gut aus und kann das Thema aus der Perspektive des Juristen und des Unternehmers beleuchten.
Achtung liebe Leute, das ist ein richtig langer Text, aber hinterher wisst ihr mehr. Lohnt sich also. Dario, die EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien wurde im Rahmen des EU-Green Deals lanciert, um einen grüneren und wettbewerbsfähigeren Textilsektor auf den Weg zu bringen. Wie siehst du das aus Industrieperspektive?
Die europäischen Institutionen haben anerkannt, dass „es nur einen Planeten Erde gibt, wir aber bis 2050 Ressourcen verbrauchen werden, die denen von drei Planeten entsprechen“. Um hier gegenzusteuern wurde eine Gesamtstrategie entwickelt, die darauf abzielt, das Wirtschaftswachstum von der Zunahme des Ressourcenverbrauchs und der damit verbundenen Abfallproduktion zu entkoppeln, um „den Übergang zu einem regenerativen Wachstumsmodell zu beschleunigen, das dem Planeten mehr zurückgibt, als es entnimmt“. Die Strategie setzt dabei auf eine aktive und bewusste Rolle der Verbraucher*innen. Das Industriemodell, das den verantwortungsvollen Konsum begleiten und unterstützen soll, ist jedoch nicht ganz klar: Der Green Deal scheint die Tatsache zu unterschätzen, dass mehr als 70 % der auf dem europäischen Markt gehandelten Textilprodukte importiert werden, und eine rein formale Herangehensweise an das Problem, die sich ausschließlich auf Zertifizierungen stützt, verzerrende Auswirkungen haben kann. Also das Fast-Fashion-Modell bestätigt, anstatt es zu verändern oder gar zu unterbinden.
Die Strategie betrachtet den gesamten Lebenszyklus (life cycle) von Textilerzeugnissen und schlägt koordinierte Maßnahmen vor, um die Art und Weise zu verändern, wie wir Textilien produzieren und verbrauchen. Europa geht hier mit gutem Beispiel voran. Ich weiß, dass du einige Punkte als schwierig zu erreichen und umzusetzen erachtest. Wo setzt deine Kritik an?
Der erste Pfeiler der europäischen Strategie betrifft die Festlegung und Förderung von Praktiken und Kriterien für die umweltgerechte Gestaltung von Produkten (das so genannte Eco-Design), deren Bestandteile, Zusammensetzung und Herstellungsverfahren Qualität, Langlebigkeit, Wiederverwendbarkeit und Reparierbarkeit gewährleisten müssen; Merkmale, die dann in den „digitalen Produktpass“ aufgenommen werden. Da stellt sich die Frage, wie diese technischen Vorgaben für ein umweltverträgliches Design definiert werden, bei gleichzeitiger Harmonisierung, Standardisierung, einheitlicher Berechnung und Messung. Auch geht es darum, unverhältnismäßige Kosten für die Unternehmen zu vermeiden. Eventuell sogar „erhebliche negative Auswirkungen auf die Verbraucher in Bezug auf die wirtschaftliche Zugänglichkeit der Produkte“ und auf die Hersteller in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit.
In der Verordnung wird vorgeschlagen, eine Reihe von repräsentativen Produktmodellen auf dem Markt auszuwählen und auf deren Grundlage die technischen Optionen zur Verbesserung ihrer Leistung in Bezug auf die Ökodesign-Parameter zu ermitteln. Um die Übereinstimmung eines Produkts mit den Ökodesign-Kriterien nachzuweisen, müssen Prüfungen, Messungen und Berechnungen „unter Verwendung zuverlässiger, genauer und reproduzierbarer Methoden durchgeführt werden, die den fortschrittlichsten, allgemein anerkannten Methoden Rechnung tragen“. Zu diesem Zweck wird die Kommission ermächtigt, die Verwendung von Online-Tools für die standardisierte und harmonisierte Berechnung der Produktleistung in Bezug auf die Ökodesign-Kriterien verbindlich vorzuschreiben. Das ist ein Ansatz, der vielleicht in einigen Produktsektoren sinnvoll ist, aber die Komplexität der textilen Lieferkette nicht berücksichtigt. Er birgt die Gefahr, dass in der guten Absicht, nachhaltigere Produkte zu schaffen, Produktionsstandards auf der Grundlage von Quantität auferlegt werden, die auf die Vereinheitlichung von Industriemodellen abzielen. Das kann sich kontraproduktiv auf Lieferketten auswirken, die bereits auf die Regeneration natürlicher Ressourcen achten. Welchen Sinn macht es beispielsweise, einen Recyclinganteil in allen Textilerzeugnissen vorzuschreiben, ohne nach Faserart zu unterscheiden? Vor allem wenn man weiß, dass mechanisch recycelte Naturfasern so kurz werden, dass sie nicht mehr zu feinen Fasern versponnen werden können und daher für bestimmte Verwendungen und Produkte völlig ungeeignet sind.Das Ziel, die Endpreise der Produkte nicht zu erhöhen, lässt zum Beispiel außer Acht, dass die Kriterien gesund, sauber, fair und langlebig mit höheren Kosten verbunden sind. Es sollten keine Modelle zur Leistungsmessung entwickelt werden, die vom (sehr schlechten) Durchschnitt der auf dem Markt befindlichen Produkte abgeleitet sind und vor allem das Fast Fashion widerspiegeln. Brauchbare Modelle müssen in der Lage sein, die systemischen Daten der gesamten Lieferkette oder des Lebenszyklus des Produkts zu berücksichtigen, auch im Hinblick auf ökologische Werte (biologische Vielfalt, Freisetzung von Mikroplastik …) und soziale Werte (Schutz menschenwürdiger Arbeit, gesunde und sichere Arbeitsbedingungen). Sie werden im derzeitigen Marktangebot nicht berücksichtigt und ebenso nicht von den vorgeschlagenen Messmodellen der europäischen Institutionen.
Die andere wichtige Säule der Strategie ist die Förderung chemischer oder mechanischer Recyclingtechnologien, die die Herstellung von Sekundärrohstoffen (d. h. aus Recycling) ermöglichen. So soll die Entnahme neuer Ressourcen aus der Erde verringert und Europa ohne ausreichende Verfügbarkeit von Rohstoffen auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger werden. Zu diesem Zweck müssen aber auch die Vorschriften für die Verwendung chemischer Stoffe in den Lieferketten von Textilien verbessert werden, um Komplikationen und höhere Kosten beim Recycling von Produkten zu vermeiden, die mit umwelt- oder gesundheitsschädlichen Stoffen kontaminiert sind.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind verpflichtet, ab dem 1. Januar 2025 ein System der erweiterten Herstellerverantwortung (sog. EPR) einzuführen. Die vorgeschlagene Lösung sieht die Schaffung von Organisationen (Konsortien) zwischen den Herstellern vor, die die getrennte Sammlung gebrauchter Textilerzeugnisse, ihren Transport, die Sortierung und Trennung, die Lagerung, die Vorbereitung für die Wiederverwendung oder das Recycling und, falls dies nicht möglich ist, die Entsorgung als Abfall auf einer Deponie oder in Müllverbrennungsanlagen übernehmen. Das europäische System der erweiterten Herstellerverantwortung (EPR) scheint in meinen Augen ein sehr guter Ausgangspunkt zu sein. Es bleiben jedoch einige Grauzonen und gesetzlich nicht geregelte Situationen, mit denen sich die für die Bewirtschaftung von Textilabfällen verantwortlichen Organisationen auseinandersetzen und die sie lösen müssen.
Zunächst muss die Masse der „Rückläufer“ aus dem elektronischen Handel berücksichtigt werden, bei denen es sich in den allermeisten Fällen um neue Artikel handelt, die daher anders behandelt werden sollten als „Abfälle“. Ähnliches könnte für industrielle Produktionsabfälle gelten, die aus übrig gebliebenen Halbfertigprodukten (Garne, Gewebe …) bestehen, die auf der Grundlage der von der Europäischen Union festgelegten Hierarchie nicht als zu entsorgende Abfälle betrachtet werden sollten, sondern als Ressourcen, die so schnell wie möglich wieder in den Produktionskreislauf zurückgeführt werden – so genanntes Upcycling im besten Fall oder Reststoff-Downcycling. Ein weiteres viel diskutiertes Thema ist die Ausfuhr von Abfällen in außereuropäische Länder. Diese Praktiken haben katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen in den Zielländern. Die europäische Gesetzgebung zielt darauf ab, die illegale Ausfuhr und den illegalen Handel mit Abfällen außerhalb der Europäischen Union zu bekämpfen und gleichzeitig die Entsorgung europäischer Textilabfälle in andere Länder zu begrenzen, in denen nicht die gleichen Sortierprinzipien und -standards gewährleistet sind. Aber nur wenn die Organisationen, die für die Verwaltung des EPR-Systems zuständig sind, ihre Rolle und ihren Auftrag über die getrennte Sammlung, Sortierung und Entsorgung von Textilabfällen hinaus verstehen und nach alternativen Lösungen – zu dem einfachen Weg sie einfach ins Ausland abzuschieben – suchen, kann vermieden werden, dass das gesamte System der erweiterten Herstellerverantwortung nicht nur zu einer bürokratischen und teuren Belastung wird. Sonst wird es schwierig, einen echten Wandel herbeizuführen und Umweltkatastrophen wie die Textildeponien in der Atacama-Wüste in Chile oder der Kantamanto Market in Ghana wiederholen sich.
Die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen hat bisher nicht funktioniert. Vorschriften sind also notwendig, aber was könnte besser gemacht werden?
Eines der größten Probleme bei der Messung der Umweltauswirkungen von Produkten ist die Verbreitung von Modellen, Marken und Zertifizierungen, die nur einen oder mehrere Aspekte des Lebenszyklus eines Produkts messen – in Europa sind über 200 aktiv –, und die damit verbundene Kommunikation zu Marketingzwecken.
Die europäischen Institutionen haben verstanden, dass ein echter grüner Übergang der Wirtschaft nicht ohne eine angemessene Befähigung der Verbraucher*innen stattfinden kann. Sie müssen in die in die Lage versetzt werden, fundiertere Konsumentscheidungen zu treffen, indem das Risiko irreführender Marketingpraktiken („Greenwashing“) verringert und eine größere Markttransparenz gewährleistet wird.
Für die Messung der Umweltleistung eines Produkts entlang der gesamten Wertschöpfungskette – von der Rohstoffgewinnung bis zum Ende des Lebenszyklus –, ist die Einführung einer einzigen Standardmethode wie die des ökologischen Fußabdrucks (PEF – Product Environmental Footprint) unzureichend. Sie umfasst zwar 16 verschiedene Arten von Auswirkungen, aber für die Messung einiger Aspekte wie Langlebigkeit, Wiederverwendbarkeit, Reparierbarkeit, Recyclingfähigkeit oder die Verwendung natürlicher Inhaltsstoffe ist sie nicht geeignet. Auch gibt es noch keine wissenschaftlich anerkannte Methode, die bestimmte Auswirkungen von grundlegender Bedeutung misst, wie den Schutz der biologischen Vielfalt oder die Freisetzung von Mikroplastik aus Textilprodukten, die aus synthetischen Materialien bestehen.Das erste Problem besteht darin, dass diese Messung ausschließlich die Umweltaspekte betrifft und die sozialen Aspekte nicht berücksichtigt. Sie sind im Textilsektor jedoch von großer Bedeutung, auch was die Auswirkungen auf die Kosten des Endprodukts betrifft.
Das zweite Problem ergibt sich daraus, dass die Berechnung den Anspruch erhebt, den gesamten Lebenszyklus des Produkts zu umfassen, aber ohne zu wissen, welches kommerzielle Weiterverkaufsmodell verwendet wird. Der Kauf auf einer Online-Plattform (mit dem damit verbundenen hohen Rückgaberisiko) oder in einem Mehrmarkengeschäft kann die Umweltauswirkungen der „letzten Meile” erheblich verändern.
Das dritte Problem besteht darin, dass die Kosten eines LCA – PEF (Life Cycle Assessment – Product Environmental Footprint) eines einzelnen Produkts sehr hoch sind, sie machen ca. 8.000 € aus. Kleinstunternehmen wären von der Anwendung ausgeschlossen und die angedachten Unterstützungen (Finanzierung, Ausbildung und technische Unterstützung) sind für kleine und mittlere Unternehmen wenig realistisch. Abgesehen von der fragwürdigen politischen Entscheidung, alle Hersteller – ob gut oder nicht – mit den Kosten für die Korrektur eines schädlichen Industriemodells zu belasten, das von den großen Fast-Fashion-Konzernen vorangetrieben wird – für sie wird die Belastung verhältnismäßig viel geringer sein – besteht auch folgende Gefahr: Die Industriemodelle, die nicht vertikal integriert sind und die wenig oder keine Kontrolle über die Lieferkette haben, werden in der Lage sein, legitimerweise sekundäre Informationen und Daten zu nutzen (aus Datenbanken, die offensichtlich dazu neigen, Umweltauswirkungen zu standardisieren), während die Daten und Primärinformationen eines kleinen bis mittleren Unternehmens, das ein gesundes, sauberes, faires und langlebiges Produkt herstellt, viel komplexere und teurere Bewertungen erfordern. Nach dem von den europäischen Institutionen eingeschlagenen Weg wird es also umso schwieriger und teurer, den eigenen ökologischen Fußabdruck nachzuweisen, je besser man schon arbeitet, während die schlechtesten Anbieter auf dem Markt von Durchschnittswerten profitieren, die sicherlich besser sind als ihre tatsächlichen.
Das ehrgeizige Regelwerk wurde bereits in gewissem Maße verwässert, und jetzt, da die Wahlen vorbei sind, muss man sehen, wie ernsthaft es weitergeht. Wie schätzt du das ein?
Es wäre ein schwerwiegender Fehler, den regulatorischen Weg des europäischen Green Deals zu stoppen. Jedoch bin ich der Meinung, dass er noch viel deutlicher darauf ausgerichtet sein muss, Produktions- und Verbrauchsmodelle zu verhindern, die auf Ausbeutung und Verschwendung beruhen. Eine Korrektur der europäischen Strategie ist notwendig, insbesondere in Fällen, wo unvollständige Informationen vorliegen oder Produkte hergestellt werden, die gegen europäisches Recht verstoßen. Die Überprüfung der Konformität dieser Produkte ist leider oft schwierig.Was ist zu tun? Wie können wir die Textilindustrie besser machen? Also transparenter, ökologischer und fairer?
Ich denke, dass der Textilsektor eine so radikale Reform seiner industriellen Produktions- und Konsummodelle benötigt, dass das keine Gesetzgebung allein erreichen oder durchsetzen kann. Vor allem nicht in einem globalen Marktsystem. Was wir brauchen, ist ein tiefgreifender kultureller Wandel, der uns alle dazu bringt, Textilprodukten einen höheren Wert beizumessen. Wir müssen uns für solche entscheiden, die nicht nur schön und funktional sind, sondern auch auf gute, gesunde, saubere, faire und dauerhafte Weise hergestellt wurden. Und zweifellos müssen wir weniger und besser produzieren und konsumieren. Keine Revolution kann wirklich erfolgreich sein und unsere Zukunft zum Besseren verändern, wenn es nicht gelingt, möglichst viele dafür zu gewinnen, sich der Auswirkungen ihrer Entscheidungen bewusst zu sein und verantwortungsbewusster zu handeln.Die EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien findet ihr hier, die Zitate hat Dario Casalini diesem Text entnommen.
Fotos: (1, 3, 4, 5, 7) © Oscalito; (2) Dario Casalini, Joan den Exter und Franziska Haller beim von mir moderierten Fashion For Future Panel „Material Stories“ © Anna Mayr for FFF; (6) Qualitätskontrolle bei Oscalito © Oscalito; (8, 9) © Susanne Barta
>> Supported by Kauri Store (M), Oscalito (L) und meiner Freundin Kristin <<
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