Fashion + Design > Fashion

June 28, 2023

Slow Fiber is leading the way

Susanne Barta

Dass die Textilindustrie nicht so weiter machen kann und darf wie bisher, scheint allmählich anzukommen. Zumindest haben doch viele schon was gehört davon. UN-Generalsekretär António Guterres hat beim vorbereitenden Treffen für den Klimagipfel in Dubai, das vor kurzem in Berlin stattfand, Alarm geschlagen. Um das 1,5-Grad-Ziel von Paris zu erreichen, müssten die Anstrengungen an allen Fronten deutlich erhöht werden, sagt er. Und eine dieser Fronten ist die globale Textilindustrie. Die bisher leider wenig Bereitschaft zeigt, Verantwortung für das, was sie anrichtet, zu übernehmen. Aber es gibt auch Initiativen, die Auswege aus der Misere aufzeigen. Ein Projekt, das in meinen Augen große Chancen hat, die Art und Weise, wie (industriell) produziert wird, zu verändern, ist im Rahmen der Slow-Food-Bewegung entstanden.slow_fiber_2 (c) susanne bartaSlow Food ist eine (italienische) Erfolgsgeschichte. Und Slow Fiber hat alle Voraussetzungen eine zu werden. Die in der Zwischenzeit weltberühmte Slow-Food-Schnecke hat eine Freundin an die Seite gestellt bekommen, die Slow-Fiber-Schnecke, die passend zum Thema, ein Wollknäuel als Schneckenhaus trägt. Und das kam so: Dario Casalini, CEO des Turiner Traditionsunternehmens Oscalito und Vordenker im Bereich nachhaltiger und fairer Mode in Italien, hat im Slow-Food-Verlag 2021 ein Buch geschrieben, in dem er die Slow-Food-Prinzipien gesund, sauber und fair, ergänzt um langlebig, auf die textile Industrie überträgt. Aus dieser Zusammenarbeit hat sich Slow Fiber entwickelt, erstmals vorgestellt im September 2022 auf dem biennal stattfindenden Festival Terra Madre, gelauncht dann im Mai 2023. 16 italienische Textilunternehmen hat Dario für die Gründung gewinnen können, weitere folgen im Sommer.slow_fiber_3+4 (c) slow fiberSich Slow Fiber anzuschließen ist an bestimmte Kriterien geknüpft und derzeit nur für italienische Unternehmen möglich. Gerade wurden die Slow Fiber KPI´s definiert. „Sie sollen jedes Jahr überprüft, und wenn notwendig, verbessert werden. Der Textilsektor ist sehr komplex, es ist ein work in progress und wir brauchen Instrumente, die in der Praxis funktionieren“, erklärt Dario. Jeder der Begriffe ­ – buono, sano, pulito, giusto, durevole –, den die Produkte erfüllen müssen, wird genauer ausformuliert. Wie zum Beispiel die Nachvollziehbarkeit der Lieferkette und die finanzielle Stabilität des Unternehmens bei „buono“ oder Strom aus erneuerbaren Energien bei „pulito“ oder entsprechendes Monitoring der Einhaltung der Arbeitsrechtsgesetze bei „giusto“. Einige Kriterien sind verpflichtend, an den anderen muss konstant gearbeitet werden. „Niemand ist perfekt, Nachhaltigkeit ist immer ein Weg“, sagt Dario. Voraussetzung jedenfalls ist, dass man eine eigene Produktionsstätte hat, in der zumindest ein grundlegender Schritt der textilen Lieferkette erfolgt. Und zwar nicht nur ein paar Prozent und der Rest ist ausgelagert, sondern der überwiegende Teil der Produktion muss vor Ort erfolgen. „Das ist außerhalb Italiens derzeit schwierig für uns zu kontrollieren, das heißt bevor wir expandieren, müssen wir die entsprechenden Regeln aufgestellt haben und schauen, wie sie hier funktionieren.“ In Zukunft sollen aber auch produzierende Unternehmen außerhalb Italiens dabei sein können, Brands und Designer*innen werden die Möglichkeit haben, sich in einer eigenen Kategorie Slow Fiber anzuschließen.slow_fiber_5+6 (c) oscalito + slow fiberVor kurzem habe ich im Buch von Alec Leach „The world is on fire and we are still buying shoes“ gelesen, dass über 70 % der Treibhausgase, die die Textilindustrie in die Luft schießt, bei der Produktion neuer Produkte anfallen. Es ist also geradezu ein Gebot der Stunde Wege zu gehen, die die Produktion grundlegend verbessern können. 

Slow Fiber richtet sich an Unternehmen, aber auch an Konsument*innen. „Es geht uns um eine ganzheitliche Sicht auf die textile Lieferkette. Wir möchten informieren und aufklären, wie eine zukunftsfähige Textilproduktion aussehen soll, und Unternehmen dazu anregen, sich grundlegend mit diesen Prinzipien zu beschäftigen“, sagt Dario. Bereits gearbeitet wird auch an Produkten, die von A bis Z den Slow-Fiber-Kriterien entsprechen, vom Anbau der Rohstoffe bis zum Endprodukt. slow_fiber_susannebarta_7 (c) slow fiberBisher verlaufen sich die meisten industriellen Textilketten irgendwo im Dunkeln. Weitverzweigt, verteilt über viele Länder, mehrere Kontinente, Sub-Unternehmen folgt auf Sub-Unternehmen. Die Diskussionen um „Made in“ reißen wohl auch deshalb nicht ab, weil so viel Schindluder damit getrieben wird. „Made in Italy“ ist eine starke Marke, aber was dann wirklich wo produziert wurde, wird selten preisgegeben. Die Gesetze bezüglich „Made in“ sind leider sehr schwach, nicht nur in Italien. Das verwundert nicht, denn die meisten europäischen Textilunternehmen haben seit langem ihre Produktion ausgelagert und sind gar nicht interessiert daran, eine starke und transparente EU-Gesetzgebung auf den Weg zu bringen. Slow Fiber gehe es weniger um ein „Made in“, als um klare Werte, sagt Dario Casalini. „Unsere Idee ist einfach: Wenn du etwas kaufst, pass darauf auf, wie es produziert wurde. Und das betrifft jeden Bereich. Man kauft also ein Produkt nur mehr, wenn es sauber, fair, langlebig, gut und gesund ist. Wir müssen aufhören Produkte zu kaufen, die diese Werte nicht erfüllen.“slow_fiber_8 (c) oscalitoWir brauchen Lieferketten, die auf jeder Stufe diesen Kriterien entsprechen. Das geht natürlich nicht sofort, sondern nur Schritt für Schritt, aber der Weg, der zu gehen ist, ist vorgezeichnet. „Wir müssen die sozialen und ökologischen Produktionsmodelle neu ausrichten, alles andere muss aufhören. Wir können nicht bei ästhetischen und praktischen Gesichtspunkten hängen bleiben“, sagt Dario. Ein wichtiger Aspekt für Slow Fiber ist jedoch „bellezza“, Schönheit. „Auch wenn Schönheit subjektiv ist, wir sie nicht für alle definieren können, gilt für uns nur als schön, was auch gesund, fair und langlebig ist. Wir sprechen hier von industrieller Produktion, auf handwerklicher Ebene ist vieles möglich“, führt er weiter aus.slow_fiber_9 (c) susanne bartaWer sich für Slow Fiber oder besser, für wen sich Slow Fiber entscheidet, der macht mit für immer. Denn Slow Fiber ist – neben allen praktischen Umsetzungsschritten – vor allem eine Haltung. Sie steht für einen Kurswechsel der Textilindustrie in Richtung ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit. Und wird so hoffentlich eine grundlegende Veränderung bewirken. Durch die Herstellung gesunder, sauberer, fairer und langlebiger Produkte. 

Geplant ist, dass Dario Casalini mit Slow Fiber auch zur Biolife im November 2023 nach Bozen kommt. Ihr werdet hier jedenfalls immer wieder einmal etwas über diese ambitionierte Initiative lesen.slow_fiber_10+11 (c) susanne bartaHier findet ihr auch ein Video, in dem Dario Casalini Slow Fiber vorstellt. Und hier geht’s zum Artikel über Darios Buch und hier zum Artikel über Oscalito.

Fotos: (1, 3, 4, 6, 7) © Slow Fiber; (5, 8) © Oscalito; (2, 9, 10, 11) © Susanne Barta – mit Dario Casalini vor dem temporären GREENSTYLE Pop-up Store in München im Februar 2022 und in der Fabrik von Oscalito, ebenfalls im Februar 2022, in Turin­. 

>> Supported by CORA happywear (M), Kauri Store (M), Oberalp Group (XL), Oscalito (L) und meiner Freundin Kristin <<

Wenn ihr diesen Blog auch unterstützen möchtet, gibt‘s hier alle Infos.

Print

Like + Share

Comments

Current day month ye@r *

Discussion+

There is one comment for this article.
  • Susanne Maria Barta · 

    Ich war vor kurzem in Biella und konnte an einer Sitzung von Slow Fiber teilnehmen. Das Netzwerk ist mitten im Aufbau. Ich war sehr angetan davon, was hier entsteht und wieviel Know how nach wie vor in Italien da ist im Bereich der Textilverarbeitung und auch wieviel Integrität. Slow Fiber is really leading the way!

Related Articles

Archive > Fashion