
Anne Marie Pircher © Manuela Tessaro
... jetzt, nach zwei Jahren, hat es zu mir gefunden, in zweieinhalb Nächten sind seine Worte in mich gedrungen, die Worte von Maria, die immer auch ein bisschen Anna ist, nie Sigrid oder Irene ...
Das eine ist der Roman. Iris & Pupille. Das andere der Gedichtband. Aria. Miteinander verbunden durch dünne Fäden, die sich über Textzeilen spannen. Gedichte, nein, kann ich niemals verschlingen, eins nach dem anderen, nicht wie Schokolade. Eines muss reichen. Der Roman hingegen hat mich eingesogen, gemein gepackt, wie ein Wasserstrudel fortgezogen, ist ab und an zu einer gutmütigen Welle mutiert, die mich befreit hat. Ich bin mir allerdings nicht mehr so sicher, was dann geträumt war und oder in den Zeilen stand ...
Die Sätze sind immer hart und prägnant, nicht schwer. Das macht den Unterschied. Manchen folg ich leichter, manchen hetz ich hinterher, getrieben von der Lust ihrer Autorin. Ohne kitschig zu werden. Es ist eine Treibjagd, über Seiten hinweg, von einem Leben, von zwei, von vielen, verbracht zwischen Kontinenten zwischen Welten zwischen Planeten.
Luft, Luft, Luft – die uns oft wegbleibt, die einfach nicht aufkreuzt, sich verdünnisiert, schwänzt. Es sind leichte, präzis gesetzte Worte, die satt und geladen über die Seiten schweben. Kein Beistrich, kein Punkt, nur Buchstaben, wie Zunder für die erhitzte ... Luft. Und das ist das schöne Dilemma dieses Aria-Bandes. Die Gedichte sind so ehrlich, dass man sie auch einfach nur denkend schenken kann. Dieses hier widme ich dir.
Tauwetter
Vielleicht aber ergibt sich heute
mein Herz
verlangt weder Führung
noch Fügung, vergisst
für eine Stunde oder zwei
die gezählten Tode, denen
Gräben und Wunden
vorausgingen
Vielleicht gelingt heute das
Wunder des Vergessens
Unten am Fluss stehen die
Zeichen auf Grün
Kinder baden splitternackt
im Frühling, während der Winter
machtlos
aus allen Hecken späht
Nun, was sagst du dazu?
Genug der Worte, von mir hier ein paar Fragen, und darauf die Antworten von Anne Marie Pircher.
Bevor ich mich an den Computer setze, mache ich handschriftliche Notizen, fange mit meiner Kamera Bilder ein oder höre einfach hin, was der Alltag oder ein Traum mir zuspielt. Das passiert so bei den Gedichten und bei meinen Kurzgeschichten. Oft auch in Begleitung von Musik. Bei Texten wie dem Roman oder einer langen Erzählung trage ich das Thema und die Protagonisten lange mit mir herum, füge sie im Kopf zu einem großen Ganzen, wie eine Art Film, um zu schauen, ob es funktionieren könnte. Ich habe großen Respekt vor meinen Figuren und analysiere sie genau. Erst wenn ich das Gefühl habe, den Stoff als Ganzes verstanden zu haben, setze ich mich an den Computer und überlasse mich dem ersten Satz, der kommt. Dieser ist dann meist spontan, als hätte er in meinem Kopf schon lange darauf gewartet, losgelassen zu werden.
Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich lange Pausen vom Schreiben habe. Ich bin weit davon entfernt, eine Schriftstellerin zu sein, die jeden Tag schreibt, das hat auch mit meinen Lebensumständen und vielen Schreibblockaden zu tun. Das Denken und die Beobachtung der Welt sind allerdings permanent da. Dem kann ich mich nicht entziehen. Das ist mein Charakter.
Warum schreibst du beides – Gedichte und Romane?
Ich habe bislang einen Roman, drei Erzählbände und drei Gedichtbände veröffentlicht. Ein Monolog wurde fürs Theater adaptiert. In der Schublade habe ich ein weiteres Theaterstück, das nie zur Aufführung kam, sowie den Versuch eines vagen Romans aus meiner literarischen Anfangszeit. Ich habe also bis auf das Essay alle Genres ein wenig probiert. Am liebsten schreibe ich Kurzgeschichten, weil man damit noch relativ verdichtet schreiben kann, aber dennoch eine Handlung da ist. Aber auch mit den Gedichten fühle ich mich wohl. Ich liebe die Reduktion, die Möglichkeit, mit Bildern in eine tiefere Gedankenwelt abzutauchen oder Gefühle auszudrücken. Aufgrund meiner Lebensumstände hat es bislang nur für den einen Roman gereicht. Um an einer so aufwändigen Prosa zu arbeiten, braucht es einen freien Kopf über einen längeren zusammenhängenden Zeitraum hinweg. In meinem Fall außerdem Mut und einen stabilen Boden unter den Füßen. Den hatte ich nicht immer, weil der Weg von der Hotelkauffrau zur Bäuerin und Mutter, dann zur Sprachtrainerin für Einwanderer und zur Literatur sehr kompliziert und arbeitsintensiv war.
Wie ist es, ein abgeschlossenes, fertig geschrieben Buch aus der Hand zu legen, es seinen Weg gehen zu lassen?
Es ist sehr ambivalent. Einen Text, der in einem intimen Raum unter einer großen Einsamkeit entsteht, einer Öffentlichkeit preiszugeben, ist für mich jedes Mal eine Herausforderung. Ich bin mit einer teilweisen Sprachlosigkeit aufgewachsen und habe lange gebraucht, um diesem Nicht-sprechen-können einen Weg nach außen zu bahnen. Mich und meine Texte auf eine offene Bühne zu stellen, zu wissen, was man preisgibt und was nicht, ist eine Gratwanderung, die mir viel Energie abverlangt. Die Welt der Kultur ist bekanntlich ja eine der schönsten, aber mitunter auch eine grausame. Inzwischen habe ich das Loslassen irgendwie gelernt und weiß, dass neben Lob und Kritik manchmal auch seltsame Überraschungen daherkommen, z. B. wenn jemand etwas völlig Unerwartetes aus einem Text herausliest, das mir selbst gar nicht bewusst war. Das kann dann bereichernd oder irritierend sein. Manchmal passiert es auch, dass ich einen veröffentlichten Text von mir nicht mehr mag. Damit muss man leben.
Ein paar Zeilen Gedicht, damit wir verstehen, wie alles beginnen kann ...
Illusion
Es ist Auszeit am Himmel
religiös liegt man
in Kleidern am Teich
bis jemand kommt
den Sommer vorherzusagen
Die Eidechse gibt ihr
Hinterteil her
meiner Zudringlichkeit
zu entkommen
ihr Verlust ist mein Gewinn
Schuppenreif, den ich mir
um den Finger lege
Schmuck meiner
Königin
Warum das „&“ im Titel? (hat mich ein wenig irritiert ...)
Das ET-Zeichen im Titel meines Romans haben wir gesetzt, um der Iris und der Pupille einen besonderen Anstrich zu verleihen. Vielleicht hat da auch N.C. Kaser in meinem Hinterkopf mitgespielt. Es ist ein Roman von rebellischer Kraft, von Wut und Mut, aber auch von leiser, zuweilen sogar humorvoller Eindringlichkeit. Ich denke, nicht nur „&“ hat einige irritiert, sondern auch der Inhalt, der für Südtiroler Verhältnisse doch ziemlich anders ist.
Wie wichtig sind dir Referenzen? (Fotos, Zitate, Widmungen ...)
Ich setze gerne ein Zitat an den Beginn meiner Bücher, um auf etwas zu verweisen, das mich für den jeweiligen Text oder ganz allgemein inspiriert, geprägt oder gefunden hat. Schriftstellerinnen, Autoren, Musiker, die etwas in mir zum Klingen gebracht haben.
Auch Fotos stelle ich gerne meinen Texten gegenüber. Das Coverfoto für meinen kürzlich erschienen Gedichtband habe ich in Triest im Parco di San Giovanni aufgenommen. Dort gibt es diesen Tümpel mit unzähligen roten Libellen, eine davon ist auf meinem Foto zu erkennen. Von diesem Ort in Triest ging in den 1970er Jahren unter Franco Basaglia die Öffnung der Psychiatrien aus. Das wollte ich mit dem Coverfoto signalisieren. Dazu der Titel „Aria“, der unter anderem auch darauf abzielt, aus einer Enge auszubrechen, Grenzen hinter sich zu lassen.
Mit den Widmungen tu ich mich schwerer. Ich mag keine Heuchelei. Ein paar Widmungen gibt es aber. Eine für meine inzwischen tote Schildkröte Lily, ein ausgesetztes Findelkind in einer Wiese, das ich vor vielen Jahren in Obhut genommen habe. Sie war mir über lange Zeit eine Art Referenzbild: zäh und leise, gewappnet mit einem dicken Panzer und einer ziemlichen Eigenwilligkeit.
Meinen Roman habe ich im Stillen meinen beiden Söhnen gewidmet, wollte sie mit einer offiziellen Nennung aber nicht in Verlegenheit bringen. Im Nachhinein hat sich diese Sorge allerdings nicht bestätigt, sie haben das Buch sehr gut angenommen.
Den jüngsten Gedichtband „Aria“ habe ich ganz offen meiner verstorbenen Mutter gewidmet, weil ihre Tragik eng mit meinem eigenen Lebensweg verbunden ist. Mein Verhältnis zu ihr war von einem großen Bruch geprägt. Während meiner Arbeit an den Gedichten lag sie im Sterben, wodurch sie mir wieder nähergekommen ist. Ich wollte ein Zeichen setzen, von dem ich weiß, dass es ihr wichtig gewesen wäre.
Und jetzt? Was kommt?
Eine Pause. Weggehen. Wiederkommen. Gedichte? Erzählungen? Und ein Roman, an dem ich intensiv und vielleicht über Jahre arbeiten werde. Ob er veröffentlicht werden kann, wird die Zukunft zeigen. Türen auf für Neues!
Anne Marie Pircher lebt als Schriftstellerin und Lyrikerin in der Nähe von Meran. Publikationen und Lesungen im In- und Ausland. Neben Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa wurde der Monolog „Schwarz & Weiß“ im Theater in der Altstadt Meran uraufgeführt. Ihre Gedichte und Prosatexte wurden bei den „Nachtbildern“ und den „Radiogeschichten“ auf Ö1 gesendet. Sie ist Mitglied in der Poesiegalerie Wien und war Finalistin beim internationalen Literaturwettbewerb „Floriana“ in der Nähe von Linz. Vor zwei Jahren erschien ihr viel beachteter Roman „Iris & Pupille“, der zwischen Südtirol und Kalifornien spielt, dabei die Flucht einer jungen Frau im Südtirol der 1980er Jahre thematisiert. Ihre Texte schweben oft zwischen Traum und Wirklichkeit. Literatur, sagt sie, sei für sie vor allem auch das, was nicht gesagt wird, was zwischen den Zeilen steht. Im neuen Gedichtband „Aria“, den sie ihrer im letzten Jahr verstorbenen Mutter gewidmet hat, setzt sie ein weibliches Ich und seine Tragik in Relation zu den großen Tragödien unserer Zeit.