Music

December 3, 2020

Get Lost In This Riddim: Shanti Powa Records

Florian Rabatscher

Immer noch keine Konzerte in Sicht, der musikalische Horizont füllt sich zunehmend mit schwarzen Wolken und entschwindet fast schon. Ich weiß, klingt ziemlich abgedroschen – ist es wirklich so schlimm? Wenn ich ehrlich bin: ja. Um euch aber wieder positiv zu stimmen: Völlig leblos ist unsere Musikszene noch nicht. Eine Eingebung, die mir in dieser schweren Zeit vor allem von einer speziellen Gruppierung bei uns hier vermittelt wurde: Shanti Powa, die sich übrigens zu den Gewinnern des Fair Play Youth Voices 2020 zählen kann und am Montag, 30. November 2020 dafür ein Live-Streaming-Konzert für die IACC (International Anti-Corruption Conference) über die Bühne brachte. An dieser Stelle: Glückwunsch dazu!

Aber in diesem Artikel geht es nicht nur um die Band selbst, sondern um alles, was sie umgibt. Man müsste sich wohl seit Anfang des scheinbar verfluchten Jahres 2020 in einem Luftschutzbunker ohne Kontakt zur Außenwelt befunden haben, um nicht mitgekriegt zu haben, wie viel verschiedene Releases uns von diesen Leuten und ihrem Umfeld um die Ohren gehauen wurden. Bei jeder einzelnen Veröffentlichung sollte sofort der gemeinsame Nenner „Shanti Powa Records“ ins Auge gefallen sein. Ein Label also? Naja, das Wort „Label“ assoziiere ich heutzutage eher mit einer reinen Geldmaschine und wenn ich mir diesen Sound-Katalog so durchsehe, fühlt es sich wieder wie das an, was man als naiver Anfänger eigentlich von so einer Institution erwarten würde. Gefüllt mit bunten Klang- und Videoproduktionen fühlt man sich bei Shanti Powa wie in einem magischen Plattenladen, der sofort in Bann zieht. Um euch meine Euphorie dafür noch etwas näher zu bringen, werfen wir doch einfach einen Blick in diese virtuelle Sound-Kommune und schauen, wen wir da so alles antreffen …

Beginnen wir bei den Namensgebern selbst, die sich 2020 als wahre Hit-Monster entpuppt haben, wenn ich das mal so sagen darf. Wie schon in ihrem ersten Release in diesem Jahr „Formula“ angepriesen, haben sie anscheinend tatsächlich die Formel gefunden, die jedem ihrer Songs diesen gewissen Kick verleiht. Natürlich gibt es diese Combo nicht erst seit gestern und ihr Crossover-Sound aus Reggae, Hip-Hop, Dub, Ska, Funk, Dance Hall, Rock und wahrscheinlich noch unendlich anderen Genres begeistert die ZuschauerInnen längst schon, doch mich persönlich, haben sie mit ihrem letzten Stück „Heaven“ endgültig überzeugt. Diese Seite in mir kannte ich bis dato noch nicht: dass ich wie ein bescheuertes Teenie-Justin Bieber-Fan-Girl bei einem Song so in Ekstase gerate und zitternd mitsinge. Aber tatsächlich, es ist so. GO fOR IT! Auch der Sound der neuesten Stücke hebt sich sehr von ihren alten ab und trifft genau meinen Nerv. 
Schon vor zwei Jahren prophezeite uns diese Combo, dass sie die Südtiroler Musikszene positiv beeinflussen und inspirieren möchten, was sie nun wirklich geschafft hat. Sie sind längst nicht mehr nur diese Band mit unendlich vielen Mitgliedern, sondern haben mit Shanti Powa Records um sich herum scheinbar eine eigene Szene geschaffen. Kein ödes Family-Gequatsche, sondern ein Sound-Gestrüpp aus verschiedensten Releases, zahlreichen Genres, Kollaborationen untereinander oder mit anderen, Remixes von allen möglichen DJs, TänzerInnen, GrafikerInnen, Soundtechnikern und was weiß ich noch alles. Der Ball rollt und den Kreativen aller Arten unter uns wird hier eine Arbeit geboten. Kommen wir aber zuerst zu ein paar musikalischen Schmuckstücken, die man in diesem Katalog findet. 

Da hätten wir zu einem ein altes Mitglied der Truppe, Ariel Trettel, der jetzt Solo, allein mit seiner Stimme und einer Gitarre bewaffnet, derartige Vibrationen in die Luft schießt, dass man sie nicht ganz einordnen kann. Es ist wie einen jungen Bob Dylan zu sehen und vielleicht fühlte es sich auch so für die Leute damals an. So kitschig es auch klingt, es ist Musik mit Herz und Seele. Zudem tritt er auch zusammen mit Bernadett Garzuly als „Lightbulb“ in Erscheinung, wo er entweder von ihrer Stimme oder Performance unterstützt wird. Sehr interessant das Ganze und ihr seht, wie vielfältig dieses klangliche Sticker-Album ist.

Darin finden wir auch noch einen alten Mitstreiter auf Solo-Pfaden, nämlich Peter Burchia, mit seinem psychedelischen und fast schon bewusstseinserweiternden Klängen. Hat man ihn in den wilden 60ern vielleicht während eines streng geheimen Regierungsprojekts in eine Zeitmaschine gesetzt und hierher geschickt? Warum ich das frage? Es wirkt einfach so authentisch, dass es schon Angst macht. Nicht wie diese aufgelegten 60er-Revival-Bands, die oft wie ein billiges Theaterstück wirken. Der Künstler und Musiker lebt diesen Lifestyle anscheinend durch und durch, was sich auch auf seine Musik auswirkt. Unglaublich.

Dann wäre da noch Miss Amelia Wattson, eine Dame, die euch fette Bässe, laszive Gesänge und harte Raps um die Ohren wirft. Ihr letzter Track „RG BTCH“ haut euch wirklich aus den Socken. Raue Electronic-Hip-Hop-Beats, die eure Boxen an ihre Grenzen bringen. Scheinbar ein Diss-Track, aber an wen er gerichtet ist, bleibt wohl ein Geheimnis. Sicher ist aber, dass wir noch viel Interessantes von dieser Lady hören werden. Ich bin schon mal gespannt. Man kennt sie aber vielleicht schon aus ihrer Zusammenarbeit mit dem Shanti Boss Berise höchstpersönlich, wo sie als das Duo „Le Voies“ die Bühnen unsicher machten.

Auch das letzte Wicked-And-Bonny-Album „Daily Hustle“ erschien unter Shanti Powa Records, auf dem wiederum Berise (dessen Name ausgesprochen werden kann, wie es beliebt) Teil ist. Berise ist sozusagen die Seele des gesamten Kollektivs, wie ein Poltergeist, der dich verfolgt, taucht er irgendwie immer und überall auf. In diesem Jahr sah man, dass er ohne Pause arbeitet, wie ein Duracell-Hase. Die Kollaborationen verstricken sich sogar so weit, dass sie fast nicht mehr nachzuvollziehen sind. Ich werde deswegen fast verrückt hier, denn sein Schaffen wirkt auf mich wie eine musikalische Wissenschaft. In seinem Solo-Album „Take Me As I Am“, das am 30.10.2020 erschien, lässt er seiner unbändigen Energie freien Lauf. Jeder einzelne Track darauf klingt speziell, vor allem „We Di Familia“. Was ist das? Reggae? Rap? Trap? Keine Ahnung, aber es klingt bombastisch.

Genau wie dieser Song verhält sich auch Shanti Powa Records. Sie haben irgendwie die provinziellen Ketten abgelegt und sich musikalisch frei entfaltet. Hört es euch doch an, klingt das nach Südtirol? Es wird gestampft, gerappt, gescratched, ge… Ach verdammt, es ist einfach INSANE! Nur Reggae also? Für alle die gerade ihre Bob Marley Greatest Hits fest umklammern und darum beten, dass ich es nicht sage. Es ist nicht nur Reggae, sondern ein Underground-Kunstwerk. Vollkommen verschmolzen mit der Ideologie des digitalen Zeitalters, geben sie sich allem hin. Oder einfach gesagt: Die Kids wollen wie kleine Bengel mit ADHS-Syndrom, denen man ihr Ritalin abgesetzt hat, ständig etwas Neues. Es wird gezappelt, was das Zeug hält, doch wer hat eigentlich gesagt, dass solche Kinder krank sind? Eigentlich ist es fast schon eine Gabe. Und wer sich musikalisch durch den heutigen World-Wide-Web-Dschungel kämpfen möchte, sollte sich schnellstens die Eigenschaften solcher Kinder aneignen oder er ist schnell weg vom Fenster. Also liebe MusikerInnen und Musikfans, genießt es einfach und lasst den Neid einmal außen vor. Seien wir doch einfach einmal stolz darauf, dass sogar aus unseren Breitengraden solche Klänge entspringen und unterstützen wir es. Oder einfach gesagt: Get Lost In This Riddim…

Foto: Berise

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