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September 12, 2019

Lola Randl: Der große Garten

Maria Oberrauch

Enzyklopädien auf Papier haben ausgedient, so dachte ich noch vor kurzem. Diese meterlangen Bücherreihen mit Millionen von Wörtern, mit Begriffen und Erklärungen, als Kind hab ich sie noch aus dem Regal gehoben, heute verblassen und verstauben sie in den Hausbibliotheken der älteren Generation als sentimentale Erinnerung. 

Nun aber habe ich hier eine Enzyklopädie in der Hand, die alles andere als verstaubt anmutet. Und ja, sie nennt sich Roman und nimmt sich heraus, unchronologisch zu erzählen. Aber ein Glossar hat sie und man kann ungeniert auch nur einzelne Abschnitte herauslesen: über die PASTINAKE z. B. oder den REGENWURM, über die QUECKE, BLÜTE, RAUPE oder SEX. Über den MANN, den LIEBHABER, die MUTTER, die THERAPEUTIN und NEUE MENSCHEN. Und über  das DORF. Darum geht es nämlich im Großen und Ganzen, noch mehr als um den tatsächlichen Garten und die Pflanzen darin. „Das Dorf weiß alles, ihm entgeht nichts, nichts ist gering genug, um nicht beachtet zu werden. (…) Das kollektive Unterbewusstsein in einem Dorf ist groß und da passt viel hinein.“

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Lola Randl untersucht den kleinen Kosmos Dorfgemeinschaft, die Utopistensiedlung Gerswalde, die sie schon in ihrem Film „Von Blumen und Bienen“ unter die Lupe genommen hat. Ihr Leben dort und die neue Stadtflucht, die „Projektierung“ des Lebens und das Weglaufen vor sich selbst und dem Alleinsein finden die ganz genau richtigen Worte in über 300 Enzyklopädie- oder auch Tagebucheinträgen, die Übergänge sind hier fließend. Dass der Inhalt eines Kapitels manchmal wenig mit dem Titel zu tun hat, ist herzerwärmend schön, weil die Leserin ihre eigenen Erwartungen vorgeführt bekommt und auch, wie es ganz anders geht, Worte zu definieren. EIER, z. B., erzählt vom orangen Gummiband, das sich der ANALYTIKER um seine Hoden bindet. Wie es sich anhört, wenn er kommt und wie die Ich-Erzählerin in ebendieser Situation eigentlich mehr daran denkt, ihren Zug zu erwischen, hinaus aus der Stadt, zurück ins Dorf, wo der MANN an der gemeinsamen Steuererklärung sitzt und ein paar Garten weiter der LIEBHABER die MAULWÜRFE ausräuchert. HERMANN und IRMGARD, ein altes Ehepaar mit riesigem Gemüsegarten und einem „ Gemüse und Blumen“-Verkaufsschild vor der Tür, sind irgendwo die Seele des Dorfs und werden neben dem Erzählerinsohn GUSTAV als einzige mit Namen genannt. Wenn ihr Gemüse aus dem Keller verkauft ist, fahren sie nach POLEN, um Nachschub zu holen. Die JAPANERINNEN kommen jeden Freitag und backen Matcha Cheese Cake für WochenendcafébesucherInnen. Der Schlachter macht seinen Job nur so, wie er es will. Gustav sammelt Tiere in Gläsern. Die GLUCKE brütet Hühner, Laufenten und Gänse aus, die MUTTER ist Landschaftsarchitektin und pflanzt nicht der Ernte, sondern des BODENS wegen. Ein ganzes Jahr vergeht in seinen Stimmungen, in PIKIEREN, blühen, säen, AUSGEIZEN, UMPFROPFEN und ernten, in gesteckten ZÄUNEN, MID LIFE CRISIS, ENTROPIE und ZUCKER. 

 „Wenn in der Natur einer will, dass ein anderer etwas für ihn tut, dann lässt sich der andere meistens mit Zucker bezahlen. Das ist so, weil Zucker nahrhaft ist und auch noch sehr gut schmeckt. (…) Obstbäume stellen als Gegenzug für die Befruchtung Nektar bereit und Kirschen werden süß, damit Vögel sich für sie interessieren und die Kerne kilometerweit mitnehmen. Zucker ist das Geld in der Natur. Die Menschen wollen jetzt allerdings lieber auf Zucker verzichten.“ 

Philosophische Überlegungen, Konsumkritik und kleine Skur­ri­li­täten tragen ein Kapitel in das nächste und verbinden so den Lauf der Natur mit dem der Menschen. Städtische SinnsucherInnen und ProphetInnen gehören dabei genauso in den Kosmos Dorf wie alteingesessener Pragmatismus. 

„Und weil der Bodo gesagt hat, dass die Küken aus dem Brutapparat dumme Hühner sind, will Veronika die Küken, kurz bevor sie schlüpfen, doch noch der Glucke von Frau Schabionke unterlegen. Früher war das alles nicht so kompliziert, sagt der Herrmann. Da haben sie das Huhn einfach besoffen gemacht und auf die Eier gesetzt. Und dann hatte man eine Glucke.“

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Der große Garten ist ein Portrait, das liebevoll, lebensfroh, und leicht ironisch anmutet. Eine große Verwunderung zieht sich durch den Text,  ein Staunen über all diese Vorgänge, Lebensweisen und Eigenheiten von Menschen und Natur. Dabei gelingt es der Autorin, nie boshaft spöttisch zu werden, auch weil sie sich, bzw. ihre Erzählstimme, konsequent von einer ordentlichen Portion Selbstironie durch das Buch begleiten lässt: „wie friedlich es im Haus ist, wenn ich nicht da bin“, schreibt sie da oder „meine Mutter schüttelt den Kopf über mein Vorhaben, ein Gartenbuch zu schreiben. Besser als jeder andere weiß sie, dass ich viel zu wenig Geduld für den Garten habe. (…) Ich hatte noch nie die Ruhe, meiner Mutter beim Gärtnern zuzusehen. Sobald sie anfing vom Garten zu erzählen, war ich innerhalb weniger Sekunden verschwunden. Das ging ganz automatisch. Nun ist meine Mutter 73 und ich 37 und ich stehe neben ihr, mit einem Stift und einem Zettel. Sie schüttelt den Kopf und denkt, das wäre wieder mal eine meiner Ideen. Und da hat sie natürlich recht.“

„Der große Garten“ von Lola Randl wurde 2019 für den deutschen Buchpreis nominiert und ist neben Marko Dinićs „Die guten Tage“, Angela Lehners „Vater unser“, Emanuel Maeß’ „Gelenke des Lichts“ und Niko Stoifbergs „Dort“ für den Franz-Tumler-Literaturpreis 2019 nominiert. Die Präsentation und Prämierung erfolgt am 20. September in Laas. 

 

Fotos: Judith Schalansky für Matthes & Seitz Verlag, Philipp-Pfeiffer, eksystent1 

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