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January 5, 2016

Im Keller der Triebe:
ein Gespräch mit Ulrich Seidl

Maximilian Mayr
Kunigunde Weissenegger

Voyeur, Misanthrop, Zyniker oder Sozialpornograf – Ulrich Seidl* musste sich schon so einige Kritik in seiner Karriere gefallen lassen. Der Regisseur gehört zu dem Umstrittensten, was die europäische Filmlandschaft der letzten 20 Jahre hervorgebracht hat, und ist, zusammen mit Michael Haneke, das unangefochtene Aushängeschild des zeitgenössischen österreichischen Films. Dass der gebürtige Wiener neben seinem Talent die öffentliche Meinung zu spalten, auch eine gewisse Voraussicht besitzt, zeigt sein 2014 veröffentlichter Dokumentarfilm “Im Keller”, über die Abgründe von Kellern in Österreich – ein Projekt, das Seidl bereits vor den Fällen Kampusch und Fritzl zu realisieren begann. Am 16. Dezember 2015 stellte der Regisseur dank Docu.emme, Zelig, FAS und BLS diesen Film in Meran vor und hielt am Tag darauf in Bozen eine Masterclass, während der er einen Rohschnitt seines nächsten Films “Auf Safari” zeigte. Wir gehörten zur kleinen Gruppe Auserwählter (dürfen wir voller Stolz sagen), die Ulrich Seidl zum Exklusivinterview getroffen haben: ein ausführliches Gespräch. 

Herr Seidl, Sie arbeiten in Ihren Filmen sowohl mit professionellen SchauspielerInnen wie Maria Hofstätter oder Margarethe Tiesel zusammen, aber eben auch mit LaiendarstellerInnen. Wie wählen Sie Ihre Schauspieler aus?

Was meinen Sie mit Wie?

Meine Frage bezieht sich vor allem auf die Laiendarsteller – wie zuletzt der Ex-Taxi-Fahrer Nabil Saleh in “Paradies: Glaube”. Wie sind Sie auf diese Person gekommen? Wo findet man solche Leute?

Es braucht, auch bei LaiendarstellerInnen, zunächst ein Anforderungsprofil. – Bei “Paradies: Glaube” haben wir einen Mann gesucht, der einen muslimischen Hintergrund hat, der also aus dem arabischen Raum kommt, in der Zwischenzeit aber in Deutschland oder Österreich lebt und Erfahrungen mit österreichischen Frauen hat. Er musste das, was die Rolle vorgab, bereits in irgendeiner Form in sich haben. Im Laufe des Prozesses sind wir auf Nabil gekommen, was ein Glücksfall war. – Denn man muss wissen, Tausende findet man nicht! Ausserdem war er sehr begabt, denn er musste für diese Rolle auch einen Querschnittgelähmten spielen, und hat sich über Wochen mit Hilfe von Physiotherapeuten angelernt, wie man sich als solcher körperlich bewegt oder eben nicht bewegen darf.
Es ist ein Prozess. Ähnlich war es für die Beach Boys in “Paradies: Liebe” oder für viele andere Rollen. Es ist wichtig, das Milieu kennen zu lernen und zweitens jemanden zu haben, der das vor der Kamera völlig natürlich wieder geben kann. Für professionelle SchauspielerInnen gilt dasselbe – zwar mit etwas weniger Aufwand, aber doch auch anspruchsvoll, da ich an meine SchauspielerInnen hohe Anforderungen stelle. Sie müssen improvisieren können. Die meisten kommen im Allgemeinen mit einem gelernten Text ans Set, meine SchauspielerInnen müssen in der richtigen Situation das Richtige sagen oder eben nicht sagen, sie müssen also improvisieren können. Das ist eine große Herausforderung. Außerdem müssen sie natürlich vor der Kamera wirken.
Das Dritte ist, dass sie sich mit ihrem ganzen Innenleben auf die Rolle einlassen müssen. Eine Margarethe Tiesel in “Paradies: Liebe” musste bereit sein, sich auf schwarze, junge Männer in Kenia einzulassen – körperlich, sexuell und so weiter. Das kann nicht jede und das will auch nicht jede. Insofern ist auch das ein langer Prozess bei SchauspielerInnen. Ich hatte für diese Rolle der Sugar Mama am Ende eines Jahres drei Möglichkeiten für drei Besetzungen und habe dann, bevor ich entschieden habe, alle drei Frauen mit nach Afrika genommen und sie mir dort vor Ort noch einmal angeschaut: Wie sie sich benehmen, wie sie mit den Männern umgehen und so weiter. Das alles ist notwendig, sonst kommen am Ende nicht die gewünschten Ergebnisse.

Dann treffen Sie die Auswahl auf Grund Ihrer Beobachtung, auf Grund ihres Gefühls? Das ist nicht unbedingt leicht…

Es ist immer ein langer Prozess. Aber genau das ist es, worauf es ankommt. Würde ich eine falsche Entscheidung treffen, wäre der Film mehr oder weniger schon kaputt, bevor man anfängt.

Und wie wissen Sie dann, dass die richtige Entscheidung getroffen wurde?

Erstens gibt es viele Tests und Probeaufnahmen, die man macht. In der Vergangenheit hat es mehrmals die Situation gegeben, dass ich mich nicht entscheiden konnte oder wollte. Da kann ich zwei Beispiele nennen: Das eine war bei “Import/Export” die ukrainische junge Frau, die letztendlich Natalja Baranova gespielt hat. – Ich hatte zwei Möglichkeiten die Rolle zu besetzen und habe mit beiden Schauspielerinnen am ersten Drehtag im selben Kostüm dieselben Szenen gedreht, um zu sehen, wo die Unterschiede liegen. Ein anderes Beispiel betrifft die Beach Boys in Kenia: Für die Hauptrolle hatte ich am Ende auch zwei Männer, die meiner Meinung nach beide gut waren, ich wusste aber nicht, was daraus werden würde. Das ist das Gefährliche, bei Afrikanern im Speziellen. – Wenn man sagt, “du bist es”, ist man ausgeliefert. Deshalb hab ich niemandem gesagt, wer die Rolle bekommen würde, sondern habe einfach angefangen zu drehen. Besagte Szene habe ich separat mit beiden Männern gedreht und es hat sich bald herausgestellt, wer von den beiden wirklich der bessere ist. Ich erfahre also die Auswahl immer als Prozess – der notwendig ist.Wie schwierig war es dann, zum Beispiel bei ihrem Film “Im Keller”, Leute dazu zu bewegen, Ihnen ihre Kellerräume zu öffnen?

Schwierig in dem Sinn war es nicht, aber langwierig. Man braucht Zeit. Das wusste ich jedoch, da ich keine Kellermenschen suchte, die Bierdeckel sammeln, sondern Menschen, die etwas verkörpern, das für das Publikum und für mich essentiell ist: Menschen mit Abgründigem und, die bereit sind es auch herzuzeigen. – Ich habe MitarbeiterInnen in Wohnsiedlungen ausgesandt, die Flugblätter verteilt haben, an Türen geklopft haben und mit Menschen ins Gespräch gekommen sind. Später bin ich mit ihnen in den Keller gegangen, habe fotografiert und gecastet. Nach einem halben Jahr habe ich mit dem ersten Menschen gedreht. Den gesamten Film fertig zu stellen, hat ja sehr lange gedauert.

Glauben Sie, dass der Keller in Österreich eine besonders wichtige Rolle spielt, verglichen zu anderen Ländern beispielsweise?

Ja, schon. Wobei Österreich nicht das einzige Land ist, wo der Keller eine Rolle spielt. Das tut er in ganz Mitteleuropa. Es gibt Länder, wo es keine Keller gibt. – Aber es kann ja auch eine Garage sein. – Der Keller ist ein Ort, wo sich Leute zurückziehen. Wo sie sich sicher fühlen, ihren Hobbys und Obsessionen nachgehen können. In den ehemaligen Ostblockländern hat es statt des Kellers die Garage gegeben, wohin sich Männer zurückgezogen haben. Auf die Idee für den Film bin ich gekommen, weil ich eines Tages die Feststellung gemacht hatte, dass die Leute in Österreich in ihrer Freizeit in den Keller gehen. – Das war die Grundidee für den Film. Und weil ich gesehen habe, dass in vielen Einfamilienhäusern die Keller sehr großzügig angelegt sind.

Inwiefern können wir mit “Im Keller” in die Psyche der Menschen schauen?

Sie können mit dem Film in Ihre eigene Psyche schauen.

Und was sind das für Menschen, die wir sehen?

Ganz normale Menschen, die gewisse Abgründe haben, wenn man das so benennen will. Gewisse Seiten, die der sogenannte “normale” Mensch fürchterlich findet. Es wird hier von sexuellen Besonderheiten gesprochen. Ich will gar nicht von Abartigkeiten reden, denn die Sexualität ist ein weites Feld. Was Liebe ist oder, besser gesagt, die “normale Liebe” kann man sowieso nicht definieren. Also ist auch das Verhältnis der Domina zu ihrem Ehesklaven eine Liebesbeziehung und ich kann mir nicht anmaßen das zu werten. Meine Filme werten nie, sondern überlassen das dem Publikum und wie der einzelne Zuschauer wertet, hängt immer von jedem selbst ab: Jeder Mensch, der “Im Keller” sieht, sieht einen anderen Film. – Denn der Film ist auch ein Spiegel von Dingen, die in uns allen stecken. Wir sind nicht frei von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Das kann keiner von sich behaupten. Deshalb muss einer aber nicht unbedingt ein Hitlerbild im Keller hängen haben, wie es im Film der Fall ist.

Im Abspann des Films danken Sie verschiedenen Personen, wie zum Beispiel Dr. Erwin Pröll, dem Landeshauptmann von Niederösterreich. Können Sie das näher erläutern?

Das müsste ich jetzt überprüfen. Meines Wissens sind dies alles Förderer des Films, unter anderem auch das Land Niederösterreich.Nun zu einem allgemeineren Aspekt Ihres Schaffens: Zentrale Elemente in Ihren Filmen sind Gewalt, Kontrolle, Sadismus oder auch Fanatismus. Welche Meinung haben Sie von Menschen in unserer Gesellschaft?

Ich habe keine allgemeine Meinung. Das wäre auch zu einfach. Ich beschäftige mich mit Menschen, mit deren Nöten, deren Sehnsüchten, mit deren existenziellen Problemen. Letztendlich sind das alles Problem, die mich auch irgendwie angehen und in erweiterter Form auch das Publikum. Die Menschen, die ich zeige, stehen immer stellvertretend für den Zuschauer und die Zuschauerin, die sich auch darin erkennen sollen.

René Rupnik aus Ihrem Film “Busenfreund” hat Sie in einem Interview einmal als Schüler Sigmund Freuds bezeichnet. Was sagen Sie dazu?

Da sage ich nichts dazu. René Rupnik ist ein ganz eigener. Der kann sagen, was er will. Ich arbeite seit vielen Jahren mit ihm zusammen, aber ich muss nicht seiner Meinung sein.

Erinnern Sie sich an Ihren ersten Film?

Mein erster Film heißt “Einsvierzig“. Ein 16 minütiger Kurz-Film.

Was möchten Sie mit Ihren Filmen bewirken?

Also meine Filme haben in dem Sinn keine Message, die sie weiter geben wollen. Die Filme sind ein Spiegel unserer Gesellschaften und unserer Kultur. Das gilt nicht nur für Österreich, sondern für alle westlichen Gesellschaften. Letztendlich möchte ich mit dem, was gezeigt wird, bewirken, dass über Themen gesprochen wird und man als ZuschauerIn berührt wird. Dass man also anders aus dem Kino hinausgeht, als man hineingeht.

Wenn Sie jetzt sagen, Sie machen Filme ausschließlich für die Zuschauerinnen und Zuschauer, meinen Sie damit, dass Sie sich dabei ganz zurück nehmen?

Ich bin der Regisseur, der etwas gestaltet und auch gestalten muss. Insofern könnte man mich auch als ersten Zuschauer bezeichnen. Ich bin vom Gezeigten auch berührt. Ich tauche in fremde Welten ein. Der Nazi-Keller oder der SM-Keller waren für mich fremde Welten und da tauche ich ein und suche eine Verbindung zu Menschen, von denen ich meine, dass sie es wert sind, gezeigt zu werden, weil es eine gewisse Allgemeingültigkeit hat und wichtig ist. Ich zwinge niemanden dazu, sich zu offenbaren, aber natürlich gestalte ich als Regisseur und probiere etwas. – Entweder es wird etwas oder es wird nichts.

Und diese Menschen und Situationen berühren Sie selbst auch?

Ja sicher. Ich beschäftige mich ja nicht über Jahre mit einem Film, wenn ich keine enge Beziehung dazu habe. Das ist mitunter ziemlich anstrengend für mich, teilweise auch psychisch, weil ich den Leuten sehr nahe bin, bisweilen auch sehr deprimierend und elend. Ich finde auch, dass es ein besonderes Privileg für mich ist, diese Art Arbeit tun zu können; deshalb komme ich auch immer wieder zum Dokumentarfilm zurück und mache sowohl Dokumentarfilme als auch Spielfilme. Mit dem Dokumentarfilm kommt man eben sehr nahe an die Wirklichkeit, die für mich sehr wichtig ist.Ulrich Seidl + Maximilian Mayr - franzmagazineWeil Sie jetzt gerade den Dokumentarfilm angeschnitten haben – die beiden ÖVP-Lokalpolitiker, die bekanntermaßen von ihren Posten zurücktreten mussten, nachdem sie in “Im Keller” mitgewirkt hatten, haben behauptet, Sie seien bezahlte Statisten gewesen. Wie inszeniert sind Ihre Filme?

Es ist immer alles inszeniert. Es gibt weder Zufall noch Objektivität. Warum diese Leute das gesagt haben, liegt auf der Hand: Sie wollten ihre Haut retten. Das verstehe ich auch. Aber man muss auch etwas anderes hinzufügen: Nicht ich habe diese Personen an das Messer geliefert. In diesem Fall waren das sowohl das Magazin News als auch ein privater TV- Sender, die das recherchiert und an die Öffentlichkeit gebracht haben. Dazu kommt, dass die beiden Herren noch nicht im Gemeinderat waren, als ich die Aufnahmen mit ihnen machte; und selbst wenn sie dabei gewesen wären, hätte ich es nicht gewusst, und auch wenn ich es gewusst hätte, wäre es mir Wurscht gewesen.
Die Sache ist so: Diesen Keller gibt es, so wie er im Film gezeigt wird, die Situation, wie ich sie gefilmt habe, habe ich so gesehen, aber trotzdem ist alles für die Kamera inszeniert. Darin liegt überhaupt kein Widerspruch. Ich zeige im Film Dinge auf, die auch fiktiv sein können. In dem Sinn aber, dass es möglich erscheint. Die Frau mit den Puppen im Keller, zum Beispiel, ist eine inszenierte Geschichte. Die Geschichte ist aber möglich, weil die Person im echten Leben eine Puppe, ein sogenanntes lebensechtes Reborn Baby, besitzt. Dadurch bin ich erst auf den Gedanken gekommen. Der gezeigte Keller ist auch ihr Keller. Dass sie aber in den Keller geht, um die Puppe zu liebkosen, ist eine reine Erfindung von mir. Es wäre aber eine Möglichkeit; und die Frau kann die Szene nur überzeugend spielen, wenn sie sich auch in diese Rolle hineinversetzen kann. Die Wirklichkeit ist für mich immer nur der Ausgangspunkt und die Basis, um etwas darzustellen. Ich verstehe unter einem Dokumentarfilm nicht, die Wirklichkeit darzustellen – das kann man sowieso nicht. Keiner kann das behaupten. Auch das Interview, das wir gerade machen, ist gestaltet.

Wenn wir jetzt noch einmal auf die Lokalpolitiker zurückkommen: Könnte man einigen Ihrer Darsteller eine gewisse Mediengeilheit oder den Drang zur Selbstdarstellung unterstellen? Menschen, die im Endeffekt die Konsequenzen eines solchen Filmes nicht bedacht haben?

Da sind Sie im Irrtum. Die Leute sind nicht dumm.

Nicht dumm. Aber vielleicht vergessen einige, dass manche Aktionen ein Nachspiel für sie haben?

Das wäre vielleicht so, wenn ich eines Tages in einem der Keller stünde und so mir nichts dir nichts ein paar Aufnahmen machen würde und dann einfach weggehen würde. Aber ein Film ist für mich ein langer Prozess. Vor dem Dreh bin ich oft mit dem Besitzer dieses Nazi-Kellers, dem Herrn Ochs, zusammen gesessen. Wir haben uns natürlich über Konsequenzen unterhalten. Er sagt ja selbst im Film, dass schon öfters die Polizei bei ihm zu Hause war. Auch ich habe mich im Vorfeld erkundigt, ob das, was er tut, unter Wiederbetätigung fällt. Ich mache keinen Film, um ihn strafbar zu machen, das ist nicht meine Absicht. Meine Intention ist eine ganz andere, nämlich am Beispiel von Herrn Ochs zu zeigen, dass dieses ewig Gestrige und diese Verharmlosung der Nazi-Zeit in diesem Land vorkommen kann und auch gang und gäbe ist und sich die Leute nicht daran stoßen. Ich habe den Film aber nicht gemacht, um den Herrn Ochs ans Messer zu liefern. Wir haben außerdem in einem Zeitraum von mehreren Monaten gedreht, immer wieder. Die Ausstiegsmöglichkeiten für ihn waren also ununterbrochen gegeben.
Bezüglich der Mediengeilheit, die Sie vorher genannt haben: Leute, die zu mir kommen, um vor der Kamera zu sein, die interessieren mich nicht. Im Fernsehen können sich die Leute selbst verwirklichen. Aber das ist für mich keine gute Basis, denn meistens steckt dahinter keine Aufrichtigkeit. Mich interessieren Menschen, die vor der Kamera echt sind.

Zu einem ganz anderen Thema: Im Moment ist der neue Star-Wars-Film in aller Munde, der sage und schreibe um die 180 Millionen Dollar gekostet haben soll. Was halten Sie von solchen medialen Großereignissen?

Was soll ich dazu sagen? Das ist ein Wirtschaftsimperium und in dem Fall ist es halt ein Film. Das hat mit dem, was wir machen, rein gar nichts zu tun.

Mit Film hat das nichts zu tun, meinen Sie?

Mit Filmkultur hat das nichts zu tun. Das ist reines Entertainment und vor allem Geschäft.

Aber bis zu einem gewissen Punkt ist ja jeder Film ein Geschäft…

Aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll, das soll es geben. – Die Welt ist auch medial so mit Geld und Macht und Einfluss gesteuert, dass wenige Großverdiener existieren und andere kommen gar nicht zum Zug. Das hat aber nichts mit Qualität zu tun. Das hat mit der Macht des Wirtschaftssystems zu tun. Alles dreht sich ums Geld. Mehr muss man dazu nicht sagen.Ulrich Seidl Meran franzmagazineGeorg Zeller + Ulrich Seidl @ Docu.emme in Meran (c) franzmagazine

Eines ihrer noch nicht realisierten Projekte trägt den Titel “Die Flucht”, ein Projekt über Menschen, die fliehen. Was sind Ihre Gedanken zur aktuellen Flüchtlingskrise in Europa, die ja auch Österreich sehr stark betrifft?

Wer kann das in wenigen Sätzen auf den Punkt bringen? Niemand. Wir sind damit konfrontiert aus vielerlei Gründen, die größtenteils in der Vergangenheit liegen. Vieles hat einfach mit Europa und unserer Geschichte zu tun. Natürlich überfällt uns das alle und keiner hat damit gerechnet. Die Gründe liegen aber in unserer und der amerikanischen Vergangenheit.

Einige klammern das aktuelle Geschehen aber vollkommen aus.

Ja, da bedarf es aber an Aufklärung, weil die Leute ja Angst haben. Was ja ein bisschen verständlich ist. Aber es wird uns nichts anderes übrig bleiben. Ganz einfach: Die Welt verändert sich rapide. Ich meine, die Welt, in der ich aufgewachsen bin, die 1960er und 1970er Jahre, die paralysiert vom Nachhall des Zweiten Weltkrieges waren, und in der es hieß, es wird nie wieder Krieg geben, dürfte längst vorbei sein.

Arbeiten Sie gerade an diesem Projekt “Die Flucht”?

Nein. Ich habe vor 20 Jahren ein Projekt gehabt, das sich damit beschäftigt hat. Ein Spielfilm mit zwei Ebenen: Die Touristen aus westlichen Ländern, die in den Süden in den Urlaub gehen, und eine weitere Ebene, nämlich eine Gegenbewegung von afrikanischen Flüchtlingen, die versuchen nach Europa zu kommen. Ich habe den Film dann nie realisiert. Das Projekt steht zwar noch auf meiner Homepage, ich werde es aber wahrscheinlich nicht mehr machen. Die Geschichte von den Sugar Mamas in “Paradies: Liebe” war dann noch ein Splitter von diesem Thema. – Meine Töpfe der Ideen und Möglichkeiten, aus denen ich schöpfe, sind sehr vielfältig und liegen teilweise sehr lange zurück. Manchmal ist es so, dass ein Dokumentarfilm ein Auslöser für einen Spielfilm ist, der später entsteht. “Jesus, du weißt” war zum Beispiel der Auslöser für “Paradies: Glaube” viele Jahre später.

Ein anderes Projekt soll “Auf Safari” heißen. Was können Sie uns darüber erzählen?

Das ist ein Film, der bald rauskommen wird. Darin geht es um Jagdurlauber, die nach Afrika gehen und Tiere tot schießen.

Zum Schluss, Herr Seidl, welches ist Ihr bester Film, von denen, die Sie bisher gedreht haben?

Es gibt keinen besten Film. Ich finde nicht. – …
Ich finde “Mit Verlust ist zu rechnen“ ist ein sehr schöner Film geworden, weil er in sich geschlossen ist. Er ist stiefmütterlich behandelt worden, weil er ein Thema behandelt, dass das Kino-Publikum a priori nicht interessiert: Der Film spielt an der österreichisch-tschechischen Grenze nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs. Es geht darum, dass ein österreichischer Witwer sich in Tschechien eine Frau sucht, weil die dort billiger zum Heiraten sind. Es geht also um das Hin und Her; um den Wohlstand in Österreich und die Armut im Osten, um Liebe, Alter und Tod. Das ist wirklich ein sehr schöner Film geworden.

*Zur Person: Ulrich Seidl, Jahrgang 1952, aus Wien, gehört zu den prominentesten und umstrittensten Regisseuren der Gegenwart. Seine Dokumentationen und Spielfilme, allen voran “Hundstage” (2000), “Import/Export” (2007), die “Paradies”-Trilogie (2012–2013) und “Im Keller” (2014), machten den Österreicher international bekannt. Ausgezeichnet mit mehreren Filmpreisen, wie dem großen Preis der Jury der Internationalen Filmfestspiele von Venedig 2001 für “Hundstage“, ist der Regisseur ebenso verehrt wie gefürchtet. Die Szene, in der sich Schauspielerin Maria Hofstätter im Film “Paradies: Glaube” mit einem Kruzifix selbst befriedigt, löste in Italien einen Skandal aus und zog eine Anzeige wegen Blasphemie nach sich. Auch Seidls jüngster Dokumentarfilm “Im Keller” sorgte im deutschen Sprachraum für Zündstoff, nachdem zwei ÖVP-Politiker von ihrem Amt zurücktreten mussten, weil sie sich feucht fröhlich in einem Nazi-Keller der Kamera Seidls zur Schau gestellt hatten. Ulrich Seidl ist mit der Regisseurin und Autorin Veronika Franz verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Wien.

Foto + Video: franzmagazine/Kunigunde Weissenegger

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