Der Designer und Autor mit „Visus“ bei BELLA CARTA in Bozen
Riccardo Falcinelli
Von außen betrachtet ist ein Gesicht etwas Selbstverständliches: Wir werden damit geboren, es gehört uns, Punkt. Doch Riccardo Falcinelli, der renommierte italienische Grafikdesigner und Theoretiker, hält dagegen: In seinem neuen Buch Visus zeigt er, dass unser Gesicht längst kein Naturprodukt mehr ist – sondern ein kulturelles Designobjekt, ein Projekt in ständiger Bearbeitung.
Für die Veranstaltungsreihe BELLA CARTA holen der Verlag franzLAB und die Buchhandlung Nuova Libreria Cappelli Riccardo Falcinelli nach Bozen: Am Freitag, 17. Oktober 2025 stellt der vielübersetzte Bestsellerautor im Gespräch mit Gianluca Camillini im Auditorium der Eurac um 19:30 sein neues Buch Visus, Storie del volto dall’antichità al selfie vor.
Das Gesicht als Entwurf
Falcinellis Ausgangsthese ist ebenso kühn wie plausibel: Während sich in der Antike nur Kaiser, Päpste oder Kleopatras über ihr Antlitz Gedanken machten – weil ihr Gesicht Macht und Status repräsentierte – beschäftigt sich heute jede:r mit ihrem:seinem eigenen. Wir alle, so Falcinelli, sind zu Gestaltern unseres Gesichts geworden.
Der Haarschnitt, die Brillenfassung, das Make-up, die Bartlänge – nichts davon ist zufällig. Es sind bewusste ästhetische Entscheidungen, eingebettet in ein gesellschaftliches Koordinatensystem. Unser Erscheinungsbild hängt davon ab, wie und wo wir leben, welche Menschen uns umgeben, in welchem sozialen Milieu wir uns bewegen. Das Gesicht ist damit kein gegebener Zustand, sondern eine soziale Skulptur.
Vom Porträt zum Selfie
Besonders spannend ist Falcinellis Blick auf den Wandel des Porträts: Einst war es ein Privileg weniger – und vor allem ein Statement der Macht. Ein aristokratisches Antlitz auf Leinwand erzählte von Reichtum, Herkunft und Einfluss. Heute, im Zeitalter von Instagram und TikTok, hat sich das Blatt gewendet: Das Selfie ist das neue Porträt, millionenfach produziert und geteilt, jederzeit reproduzierbar.
Doch an die Stelle des gesellschaftlichen Rangs tritt nun die Inszenierung von Persönlichkeit. Nicht mehr das Amt, sondern der Lifestyle wird ausgestellt. Ein Foto im Luxushotel sagt heute nichts über Besitz, sondern über den Wunsch, Teil einer Erzählung zu sein. Falcinelli zeigt, dass der Selfie-Blick weniger abbildet als aufführt – eine kleine, alltägliche Performance unserer selbst.
Zwischen Pixel und Politik
Natürlich bleibt bei einem Buch über das Sehen und Gestalten die Frage nach der künstlichen Intelligenz nicht aus. Falcinelli sieht den derzeitigen Hype gelassen: In der Grafik, sagt er, habe KI bislang wenig wirklich verändert. Die automatisch generierten Bilder seien meist ästhetisch glatt, aber inhaltlich flach – statistische Stereotype in Hochauflösung. Für professionelle Projekte taugen sie kaum, eher für Spielereien oder Präsentationen. Anders verhält es sich mit der Sprache. Textbasierte Systeme wie ChatGPT oder Übersetzungstools haben, so Falcinelli, längst ihren Platz im kreativen Alltag gefunden. Während die KI im Bildbereich also noch tastet, schreibt sie im Text längst mit.
Und Visus geht über Designfragen hinaus. Falcinelli erinnert daran, dass visuelle Kommunikation ein politischer Akt ist. Grafik, sagt er, ist überall: auf Wahlplakaten, in Werbespots, auf Demonstrationsbannern. Entscheidend sei die Intention – die Verantwortung der Gestaltenden, die wissen – oder wissen sollten, dass Bilder Macht erzeugen.
Der Spiegelblick
Falcinelli gelingt in Visus ein Spagat zwischen Theorie und Zeitgeist, zwischen kunsthistorischer Tiefe und kulturkritischer Gegenwartsdiagnose. Seine Essays sind keine trockenen Abhandlungen, sondern funkelnde Reflexionen über das, was uns alle betrifft: das eigene Gesicht – und das, was wir darin sehen (oder sehen wollen).
Denn am Ende ist Visus auch ein Spiegel. Einer, der uns freundlich, aber bestimmt daran erinnert, dass unser Gesicht weniger Natur als Narrativ ist – ein Entwurf, den wir Tag für Tag neu zeichnen.