Contemporary Culture in the Alps
Contemporary Culture in the Alps
Since 2010, the online magazine on contemporary culture in South Tyrol and beyond in the Alpine environment.

Sign up for our weekly newsletter to get amazing mountain stories about mountain people, mountain views, mountain things and mountain ideas direct in your inbox!

Facebook/Instagram/Youtube
© 2025 FRANZLAB
Literature,Books

„Die Nazis sind immer die anderen“

Sechs Fragen an Annegret Liepold, Finalistin beim Franz-Tumler-Literaturpreis 2025

16.09.2025
Verena Spechtenhauser
„Die Nazis sind immer die anderen“

Autorin Annegret Liepold © Daniela Pfeil

Autorin Annegret Liepold © Daniela Pfeil

Zum zehnten Mal wird heuer in Laas der Franz-Tumler-Literaturpreis für deutschsprachige Debüts verliehen. Unter die fünf Finalist:innen dieser Jubiläumsausgabe, die am 18. und 19. September 2025 stattfindet, hat es auch die Nürnberger Autorin Annegret Liepold mit ihrem Erstlingswerk Unter Grund (2025, Blessing Verlag) geschafft. Sie wurde vom Meraner Publizisten und Germanisten Ferruccio Delle Cave für den Preis vorgeschlagen.

Annegret Liepold liest am 19. September 2025 um 11:00 im Josefshaus in Laas aus ihrem Roman. Die Veranstaltung ist frei zugänglich.

„Wo warst du heute eigentlich?“
„Na bei der NPD."“
„Du verarscht mich. Alleine?“ Leon sah sie beeindruckt an.
„Naja, nicht ganz allein, ich stand da so rum, hab auf dich gewartet, und dann ... kam einer aus'm Dorf, den ich kannte.“
„Natürlich kam da einer aus dem Dorf“ , sagte Leon ironisch und zog an dem Pulli. „Consdaple. Wirklich? Haben die dich in nur einer Nacht umgedreht?“
Auszug aus „Unter Grund“, S. 110, Annegret Liepold
About the authorVerena SpechtenhauserWer bin ich und wenn ja, wie viele? Auf jeden Fall endlich Historikerin und immer noch wahnsinnige Bücherliebhaberin. [...] More
Sommer 2017: Die junge Referendarin Franka besucht mit einer Schulklasse den NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München, als ein einziges Wort sie schlagartig zurück in ihre Vergangenheit versetzt: Nazischlampe! Überstürzt reist sie daraufhin in das Dorf ihrer Jugend, wo sie einst mit ihren Eltern, ihrer Großmutter, Großtante und Großcousine lebte und das sie knapp zehn Jahre zuvor genauso überstürzt verlassen musste. Was genau im Leben von Franka damals passiert ist, erzählt uns die Protagonistin in Rückblenden: die Krankheit des Vaters, die Schwierigkeiten in der Schule, die Abwesenheit der Mutter und die Härte der Großmutter und schließlich die morbide Faszination für die Neonaziszene vor Ort. Dass Franka nicht gerne an diese Zeit zurückdenkt, dass es ihr vielmehr unangenehm ist, aber dass sie sich ihrer Vergangenheit stellen muss, um endlich neu anzufangen, spürt man als Leser:in genau. Nur zu gerne würde man ihr 15-jähriges Ich vor dem nächsten und dem übernächsten und dem erneuten Schritt in die falsche Richtung warnen, weiß man doch, was da noch kommen wird. Denn Franka wird zur Mitläuferin und steigt damit unbewusst auch in die Fußstapfen ihrer ungeliebten Großmutter. Die Geschichte aus der Täter:innen-Perspektive zu erzählen war Liepold ebenso wichtig wie das Zitieren von Naziparolen im Text. Eine richtige Entscheidung? Für Annegret Liepold absolut, wie sie in einem Interview erklärt: „Ganz ohne Naziparolen geht es nicht. Denn ich will das ja auch nicht verharmlosen. An manchen Stellen muss man als Leser:in auch erschrecken über die Gewalt in der Sprache und auch die Dummheit der Jugendlichen, die das reproduzieren, ohne wirklich Ahnung davon zu haben (...).“
Für mich ist Frankas Geschichte eine, die man in den 1990er- und 2000er Jahren so auch in unseren Dörfern erlebt hat. Wir alle kennen eine Franka, einen Patrick, eine Janna und wir alle kennen auch das kollektive Schweigen eines Dorfes. Auch wenn es vielleicht Unangenehm ist das zuzugeben.

Hier nun mein Gespräch mit Annegret Liepold über ihren Debütroman.

In den letzten Jahren sind in Deutschland immer wieder Filme und Coming-of-Age-Bücher erschienen, die in der Neonaziszene spielen. Mir fällt da zum Beispiel der Film Kriegerin von David Wnendt ein oder Bücher wie Wir waren wie Brüder des Rechtsextremismus-Experten Daniel Schulz, Mit der Faust in die Welt schlagen von Lukas Rietzschel oder Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß von Manja Präkels. All diese Geschichten haben als Setting Ostdeutschland in den Nullerjahren. Warum hast du für die Geschichte von Franka ein kleines Dorf im bayerischen Mittelfranken gewählt?
Als ich begonnen habe zu schreiben, war mir noch nicht klar, dass meine Protagonistin Franka auch tatsächlich aus Franken kommen muss. Da war der Text klüger als ich. Im Nachhinein würde ich sagen, ich habe mich für zweierlei interessiert: Zum einen für die jüdischen Friedhöfe, die dort überall in der Landschaft verstreut liegen und die leider häufig vergessene Orte sind. Zum anderen wollte ich verstehen, warum der NSU gerade in Mittelfranken so viel Unterstützung bekommen und somit nicht zufällig drei Morde in Nürnberg begangen hat. Mit dem Fingerzeig auf Ostdeutschland machen es sich die neuen Bundesländer leicht: Die Nazis sind immer die anderen. Mittlerweile glaube ich, die Tiefenbohrung, die ich mit dem Roman gemacht habe, hätte überall in Deutschland spielen können, etwa auch in NRW, und dabei die gleichen Probleme und Zusammenhänge hervorgebracht.

Für dein Buch hast du fünf Jahre lang über die aktive Neonaziszene in Franken recherchiert. Wie sah deine Recherche aus, worauf bist du gestoßen und warum war es dir wichtig, so intensiv in die Thematik abzutauchen?
Als mir klar war, dass der Roman an einem ganz konkreten Ort spielen muss, habe ich erstmal im Landkreis recherchiert und bin dabei, auch konkret für das Jahr 2006, auf so viele rassistische und antisemitische Vorfälle gestoßen, dass ich für die Romanhandlung auswählen musste: etwa Rechtsrockkonzerte und NPD-Versammlungen in der Dorfkneipe, ein antisemitischer Dorfmob, die Schändung eines jüdischen Friedhofs, Naziaufmärsche rund um ein Kriegerdenkmal. Was mich interessiert hat, war, was genau an der dörflichen Struktur und einem übergenerationellen familiären Schweigen es begünstigt, dass eine junge Frau anfällig für die rechte Szene und Ideologie wird. Es ist schwer, da den Finger auf einen Punkt zu legen oder einzelne Gründe zu isolieren. Ich musste sowohl verstehen, wie der Einstieg in so eine Szene funktioniert, als auch meine Protagonistin sehr genau kennenlernen.

Wie glaubst du entsteht rechte Gewalt?
Das ist eine schwierig zu beantwortende Frage. Es gibt ja nicht die rechte Gewalt – aber natürlich Strukturen, die sie begünstigen und letztendlich Einzelpersonen, die sie verüben. Deshalb habe ich für den Roman nach einer individuellen Geschichte gesucht, um das an einem Einzelfall nachvollziehen zu können. Denn bei allen gesellschaftlichen Problemen: Franka hätte immer die Wahl, Nein zu sagen und sich abzugrenzen. Leider tut sie es nicht.

In deinem Buch geht es auch um das kollektive Schweigen, das sowohl in den Familien als auch im Dorf vorherrscht. Kannst du dazu mehr erzählen, was beschäftigt dich daran?
Mich hat interessiert, wie das Nicht-Sprechen über das Wesentliche in den Familien, etwa über individuelle Themen – wie bei Franka der Verlust des Vaters – mit dem Schweigen über die Vergangenheit zusammenhängt, wie das eine das andere bedingt und so eine Kultur des Schweigens entsteht. Um diese zu zeigen, habe ich etwa nach Bildern gesucht, die von einer Kontinuität rechten Gedankenguts seit dem Zweiten Weltkrieg erzählen. Die Fakten liegen ja auf dem Tisch. Man weiß, wie viele jüdische Menschen aus dem Dorf deportiert wurden, die jüdischen Friedhöfe zeugen von einer Kultur, die nach vielen Jahrhunderten ausgelöscht wurde. Aber das Nicht-Sprechen schafft einen Raum des Unbehagens, der das Konkrete ungreifbar werden lässt, sodass die Verantwortung aufgeschoben werden kann. Was da aber nicht sichtbar ist, beginnt zu spuken. Nach dem Spuk habe ich gesucht. Vielleicht kann ein Benennen ihm einhalten gebieten, etwa wenn man einfach sagt: Meine Oma war Nazi. Dafür muss sie nicht Obersturmbannführerin bei der SS gewesen sein.

Welche Erfahrungen hast du selbst in deiner Kindheit und Jugend mit rechter Gewalt gemacht?
Mit konkreter Gewalt bin ich nicht in Berührung gekommen. Es gab die Neonazitreffen in der Dorfkneipe, gegen die sich das Dorf damals auch erfolgreich gewehrt hat. Und es gab Pöbeleien auf Volksfesten – aber insgesamt habe ich das Phänomen wenig ernst genommen, es eher als Dorfnazitum abgetan. Dabei war das zum Teil das gleiche Personal, das auch mit dem „Thüringer Heimatschutz“, also dem NSU, eng verbandelt war.

Warum war es dir wichtig, die Geschichte von Franka zu erzählen? Und wer sollte dein Buch lesen?
Ich glaube, die Rechten wissen sehr genau, wie sie das Unaufgearbeitete unserer Geschichte reaktivieren und für ihre Zwecke nutzen können. Ich hoffe, dass mit dem Benennen der Kontinuitäten gerade junge Menschen resilienter gegen rechtes Gedankengut werden. Aber natürlich spielen beim aktuellen Erstarken und bürgerlich werden der ja eigentlich schon nicht mehr Neuen Rechten noch sehr viele andere, auch globale Phänomene mit. Was die Leser:innen angeht: Viele Leser:innen erkennen sich im Dorf wieder, viele Leser:innen beschäftigen sich gerade oder im Anschluss an die Lektüre mit der eigenen Familiengeschichte. Manche Leser:innen sind viel jünger, als ich das beim Schreiben erwartet habe. Ich hoffe ein bisschen, das Buch hilft dabei, weniger Angst vor der Frage der ‚Schuld‘ zu haben.

Wetzt die langen Messer hatte Janna an die Hauswand geschrieben, was im Dorf Aufsehen erregte. Weniger wegen dem, was dort stand, sondern man ärgerte sich für Frau Haas, weil keiner für den Schaden an ihrer Hauswand aufkommen würde, solange die Täter nicht gefasst waren. Franka musste sich zusammenreißen, um ihrer Mutter nicht zu sagen, dass sie dabei gewesen war, als Ingrid die Neugikeiten mit laut mit den Nachbarn diskutierte. Auch wenn sie wusste, dass ihre Mutter es nicht gutheißen würde, gab es ihr ein Gefühl von Überlegenheit. Ich weiß, wer es war! Ich war dabei!
Auszug aus „Unter Grund“, S. 154-155, Annegret Liepold

Annegret Liepold, geboren 1990 in Nürnberg, hat in München und Paris Vergleichende Literaturwissenschaften und Politikwissenschaften studiert. Ihr Debüt wurde mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem erhielt sie dafür das Literaturstipendium der Stadt München und wurde sowohl zur 15. Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung als auch zur Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus Berlin eingeladen. Mit einem Auszug aus ihrem Romanprojekt Sand war sie 2022 Finalistin beim 30. Open Mike. Aktuell arbeitet Liepold am Literaturhaus München.

SHARE
//

Tags

Debütroman, Franz-Tumler-Literaturpreis, Gegenwartsliteratur, Annegret Liepold, Rechtsradikalismus, Blessing Verlag
ARCHIVE