Jazz unlimited
Festival-Feeling zwischen Kranhalle, Klimastollen, Klangwolken

Sonic Reaction: Andreas Lettner + Camila Nebbia @ Concrete Shop Bozen, © Florian Dariz/Südtirol Jazz Festival Alto Adige
Sonic Reaction: Andreas Lettner + Camila Nebbia @ Concrete Shop Bozen, © Florian Dariz/Südtirol Jazz Festival Alto Adige
Der Jazz ist zurück – mit einem zehntägigen Programm, das Grenzen testet, indem es sie gar nicht erst anerkennt. Was war, was ist, was wird ... ?! Begleitet vom Thema der Jazz Chemistry reist die junge Jazz-Avantgarde auch dieses Jahr wieder aus ganz Europa und der Welt an und bringt fürs Südtirol Jazzfestival Alto Adige einen Musik-Mix mit, so bunt wie das Periodensystem: von Hip-Hop bis Renaissance, von freier Improvisation bis Post-Dub, von Club zu Klanginstallation. Auffallend hörbar wird das im diesjährigen Format der Sonic Reactions, bei dem sich Musiker:innen in spontanen Duo-Experimenten in Yoga-Studio, Skate Shop, Buchhandlung, Plattenladen und Modegeschäft in Bozen begegnen und ... – neue Kombinationen, neue Orte, neue Reaktionen und Interaktionen: ein Festival wie ein lebendiges Labor.

Jazz kennt keine Grenzen – das sagt sich leicht, klingt aber sehr glaubwürdig in diesen Tagen. Denn das Südtirol Jazzfestival Alto Adige 2025 kehrt zurück mit ein Programm, das so wild wuchert wie eine improvisierte Melodie: mehr als 60 Konzerte in über 40 Locations (die meisten davon kostenlos), Musiker:innen aus ganz Europa und darüber hinaus. Von der Kranhalle im NOI Techpark bis zum Klimastollen in Prettau, von alten Burgen zu Sesselliften, von Parkhotels bis zu Bergwiesen auf über 2.000 Höhenmetern. Das Festival läuft bis 7. Juli 2025, streift durch Genres, Formate und Räume – und macht damit auch klar: Jazz ist keine Stilfrage, sondern eine Haltung.



Klangmanifest & Clubnacht – das Festival startet elektrisch
Die Eröffnung am Freitag, 27. Juni war so etwas wie ein akustisches Manifest dieses Geists. In der industriellen Weite der Kranhalle legten einige Musiker:innen des Amsterdamer Brainteaser Orchestra mit Industrial Echoes einen ersten feingesponnenen Soundteppich aus: akustisch, subtil, fast kammermusikalisch. Die Raumakustik zwischen Beton, Stahlträgern und natürlichem Abendlicht gab der Musik eine fast meditative Schärfe. Als später die volle Besetzung des Orchesters im Innenhof des NOI aufspielte, wurde daraus ein orchestraler Energiestrom, der mit Händen zu greifen war. Beton vibrierte, Luft flimmerte – Uhrzeit egal.


Die erste Festivalnacht ging, wie es sich gehört, nicht einfach zu Ende, sondern schraubte sich noch weiter hinein ins Nachtleben. Zwischen Vinyl-Sounds von Damian Dall Tore (DDT) und den Ambient Beats von Pianeti Sintetici transformierten Komfortrauschen aus Berlin den Jazzgedanken in elektronische Körpermusik – mit Gitarre, verzehrtem Acid-Bass, Schlagzeug und Loop-Stations. Im Sudwerk wurde das zu einer technoiden Live-Erfahrung, die den Dancefloor nicht nur beschallte, sondern tatsächlich bewohnte. Einfach Clubbing im besten Sinn: anders, alternativ, mitreißend. Der Boden tanzte mit, der Schweiß floss, und draußen vor der Tür hätte man glatt vergessen, dass man in Bozen war – und nicht irgendwo zwischen Neukölln und Amsterdam-Noord.



Beat im Keller, Echo im Berg, Groove auf der Alm
Tags darauf tauchte die Pride-Afterparty in Kollaboration mit dem Jazzfestival denselben Keller in neue Farben: DJ Giulia Gutterer wechselte zwischen Downtempo-Beats und Melodic-Techno, dazu fächelte eine Menge von Fächern im Regenbogen-Design die Hitze von den glitzernden Wangen. Wer hier noch fragte, ob das noch Jazz sei, bekam ein Schulterzucken und ein schelmisches Jein – schließlich gilt im Sudwerk der ungeschriebene Merksatz: Alles, was swingt, darf bleiben, selbst wenn es gerade hupft.
Am Sonntag tauchte das Festival dann wortwörtlich ab: 1.100 Meter unter Prettau im tiefsten Ahrntal verwandelte Reinier Baas den Klimastollen in eine Gitarre aus Fels, Hall und Heilluft.



Am Dienstag Abend zog der Tross weiter in die Zoona Magnifique, wo Andi Tausch PULS samt Jahson the Scientist zwischen Skate-Decks, Spray-Caps und Paletten-Möbeln Hip-Hop, Gitarren-Funk und Spoken Word zusammenschmilzt. Bozens Jazzpolizei musste daheimbleiben; hier draußen in der Industriezone entscheidet der Bass, wer Recht hat. Gegen Ende der Woche gab‘s dann eine Art Alpen-Ambient-Free-Jazz in Stereo: Das Duo POEJI spielt am Donnerstag erst am Stanglerhof zu Füßen des Schlerns, tags darauf im Meraner Ottmangut; die Zikaden swingen mit, der Wein sowieso.

Form trifft Freiheit – vom Hotelgarten in den Klangkeller
Am Donnerstag wird es im Parkhotel Laurin zunächst atmosphärisch und konzentriert: Der französische Saxofonist Sylvain Rifflet bringt seine Klangwelten in den Garten des Jugendstilhotels, irgendwo zwischen Jazz, Meditation und cinematischer Eleganz. Danach verlagert sich das Geschehen zurück ins Sudwerk, wo Georg Vogel und Andreas Lettner ihr gemeinsames Projekt Ohhnett präsentieren. Für ihr Debütalbum haben die beiden einen ungewöhnlichen Prozess gewählt, ein perfekter Match für die molekulare Netzwerk-Vision des Festivals: Sie improvisieren, schreiben die Musik anschließend aus dem Gedächtnis heraus nieder, bearbeiten und arrangieren sie neu – und spielen sie dann wieder ein. Georg Vogel hat dafür unter anderem das Claviton erfunden – ein Instrument mit mehr Tonstufen pro Oktave als üblich –, das seine eigene Handschrift in den Sound einbringt. Improvisation und Studioarbeit greifen so ineinander und schaffen Musik, die sowohl lebendig als auch präzise wirkt. Gerade das ist Jazz: Wenn Freiheit und Form sich gegenseitig überraschen.



Am Samstagabend teilt sich das Festival erneut auf. In Meran bringt das Trio Mel*E seinen organischen Mix aus Jazz, Elektronik und Vintage-Sounds in den Ost West Club – Musik, die sich treiben lässt, ohne beliebig zu werden. Zeitgleich startet am Schlinigpass ein ganz besonderes Format: eine Klang-Exkursion mit Damian Dalla Torre, Bertram Burkert und Laura Zöschg. Inmitten alpiner Stille sammeln die Teilnehmer:innen Geräusche, nehmen sie auf, denken sie weiter – am Sonntag werden daraus live auf der Alten Pforzheimer Hütte neue Stücke entstehen. Musik, die im Gehen entsteht, im Hören wächst und sich dem Ort anpasst, an dem sie gespielt wird.

Eines wird in dieser Woche besonders deutlich: Dieses Festival ist nicht nur eine Feier des Jazz in all seinen gegenwärtigen Erscheinungsformen – es ist auch eine Einladung, Südtirol anders zu sehen. Als akustische Landschaft, als Bühne für das Ungeplante, als Ort, an dem Grenzen aufgelöst und wieder neu gezogen werden. Zwischen Alpenidylle und Avantgarde, zwischen Tuba und Turntables, zwischen Sonnenaufgang und Sudwerk-Session. Sechs Tage down, vier to go. Einfach hingehen, Ohren auf, überraschen lassen – denn, wo Linien verschwimmen, fängt Jazz erst an.