Bewegende Momente
Elisabeth Reichegger über das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Körper und Raum

Portrait von Elisabeth Reichegger, © Elisabeth Reichegger
Ein Unterschied, der einen Unterschied macht, ist oft verschwindend klein. So klein, dass man ihn gar nicht bewusst wahrnimmt. Wo ist ein Blauton zum Beispiel noch blau, und wo beginnt das Blauviolett? Wo steht die Zeichnung still und wo bewegt sich das Muster kaum merklich? Und stellt das Bild überhaupt Bewegung dar oder löst es vielmehr eine Regung in der betrachtenden Person aus?
Die Vinschger Künstlerin Elisabeth Reichegger, Jahrgang 1986 und in Latsch aufgewachsen, interessiert sich besonders dafür, wie detailliert wir wahrnehmen können. Sie hat in Bologna und Alfter Malerei und Bildhauerei studiert und lebt seit Jahren als freischaffende Künstlerin in der Nähe von Bonn. In ihren Malereien, Zeichnungen und Installationen setzt sie sich unter anderem mit der Frage auseinander, wie sich der Raum auf den Körper auswirkt.

Ihre Kunstwerke sind wie eine Einladung, auszuatmen und langsamer zu werden, um tiefer zu gehen. Die Farben ihrer Ölbilder verschwimmen sanft ineinander und schimmern in feinen Abstufungen. Man hat das Gefühl, man könnte sich von den Farben umspülen lassen. Wenn man sich etwas Zeit nimmt, um die Aufmerksamkeit auf die eigene Wahrnehmung zu richten, treten feine Nuancen zutage, die man sonst vielleicht gar nicht bemerkt hätte. Und so bietet sich die Gelegenheit, mit etwas Neuem in Berührung zu kommen und die feineren Schattierungen zu erspüren, die sogar die Betrachtung des Gesamtbildes verändern können. Manchmal braucht es dazu gar nicht viel.


Elisabeth Reicheggers Kunstwerke werden bald auch wieder in Südtirol zu sehen sein: Aktuell arbeitet sie an zwei Bildern für CURA, eine Ausschreibung der Stiftung Südtiroler Sparkasse in Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Künstlerbund, Cooperativa19 und dem Krankenhaus Bozen. Im Rahmen dieses Wettbewerbs erarbeiten Künstler:innen Bilder zum Thema Pflege und Genesung. Die Arbeiten werden vom 18. Juli bis 16. August 2025 in den Räumlichkeiten von SKB Artes ausgestellt. Anschließend wird eine Auswahl daraus im Krankenhaus für Pflegende, Patient:innen und Besucher:innen dauerhaft zu sehen sein.
Abgesehen von zeitlich begrenzten Ausstellungen sehe ich meine Arbeiten in stillen Räumen wie Kapellen, Kirchen, Abschiedsräumen … und wünsche mir, dass sich Menschen tief berühren und sanft bewegen lassen.
Tatsächlich wirkt es, als lote sie mit ihren Arbeiten die Schwelle zu anderen Schichten des Seins aus. Die Künstlerin hat zum Teil selbst erlebt, wie die Wahrnehmungsfähigkeit in intensiven Situationen, zum Beispiel bei Krankheiten, rund um eine Geburt oder in Berührung mit dem Sterben ausgeprägter werden kann. Entschleunigung und Fokussierung können in solchen Momenten dazu beitragen, die Wirkung des Wahrnehmbaren zu verstärken, findet sie. Im folgenden Gespräch erzählt sie uns mehr über ihre Arbeitsweise und die Bedeutung der eigenen Wahrnehmung.

Tatsächlich war die Zeichnung und dann vor allem die Malerei für mich der Zugang zur intensiven künstlerischen Auseinandersetzung. Dabei rückte die Beschäftigung vor allem mit der eigenen visuellen Wahrnehmung in den Vordergrund, die eine Sensibilisierung dergleichen vorantrieb und davon ausgehend das Veranschaulichen und Ausdrücken des Wahrgenommen auf der zweidimensionalen Fläche mittels Stift, Pinsel und Farbe. Der Blick richtete sich neugierig und forschend nach Außen: auf Landschaft, Naturphänomene, Menschen. Werke von Künstlern wurden fasziniert studiert.
Gleichzeitig begleitete mich die Frage des Wie! Welcher Duktus, welche Pinsel- oder Stiftführung ist einerseits möglich und andererseits die eigene? Durch welche Bewegung entsteht eine authentische Spur, ein authentischer Ausdruck? Eine wechselseitige Beeinflussung des Lernens im Bereich der Wahrnehmung und des künstlerischen Gestaltens fand seitdem statt.
Ein Schlüsselerlebnis im Alter von 13 Jahren kommt mir in Erinnerung: eine Schraffurzeichnung aus einem Zeichenbuch regte mich zum Abzeichnen an. Dabei erlebte ich das erste Mal eine ganz eigene, vom Inneren sich ausdrückende Bewegung, die sich schwungvoll auf das Blatt legte. Diese Bewegung setzte sich von den sonst bekannten, dem Motiv erfassen wollenden, möglichst akkuraten Zeichenstrichen deutlich ab: Sie war authentisch.
Nach der Matura folgte ein kurzer Akademieeinstieg im Fachbereich Malerei in Bologna und darauf das Studium der Bildhauerei an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Der direkte Kontakt mit dem Material und der Stofflichkeit, die verstärkt physische Auseinandersetzung sowohl in Bezug auf das Material als auch auf das künstlerische Gestalten und Handeln hat mich interessiert. In diesem Studium rückte die Auseinandersetzung mit dem Thema Raum und Installation in den Vordergrund und blieb seitdem für mich zentrales Forschungsfeld. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Farbe und Form auf der klar begrenzten Bildfläche hat sich im Laufe der Zeit auf den Raum ausgeweitet. Bilder bzw. Farbflächen verlassen immer wieder die Wand als Präsentationsfläche. Wie wirken Farbflächen im Raum und wie steht der Betrachter innerhalb des Raumes in Bezug zur Installation? Das sind zentrale Fragen, die in der künstlerischen Auseinandersetzung immer wieder neu bewegt und erforscht werden wollen.



Du bist auch ausgebildete Kinaesthetics-Trainerin. Was ist Kinästhetik genau und welchen Bezug gibt es zu deiner Kunst?
Ja, was ist Kinästhetik genau? Das ist eine gute Frage! Kinästhetik bedeutet übersetzt die Kunst/Wissenschaft der Bewegungswahrnehmung. Sie ist die erste anerkannte Erfahrungswissenschaft, die ausgehend von dem Studium der Bewegung durch die Eigenerfahrung und Wahrnehmung (1. Person-Studium) in Verknüpfung mit wissenschaftlichen Theorien Erkenntnisse vermittelt, studiert und stets weiterentwickelt wird. Kinästhetik versteht die Wahrnehmung und Gestaltung von Bewegung als eine der wichtigsten Grundlagen des menschlichen Lebens und der individuellen Entwicklung und hat sich vor allem in verschiedenen Bereichen der Pflege implementiert. Ihre Ursprünge wurzelten im Tanz.
Sowohl die Kinästhetik als auch das künstlerische Arbeiten sind ein praktisches Forschungsfeld für individuelle Fragestellungen, die untersucht, bearbeitet und weiterentwickelt werden wollen. Der Prozess der Forschung zeigt ein ähnliches Muster: Das Handeln, Bewegen oder Gestalten wird wahrnehmend untersucht, reflektiert, darauf folgt ein weiteres Gestalten und Handeln ... In beiden Feldern ist die Suche nach Möglichkeiten, die Entwicklung von Ideen und das Entdecken von Neuem von zentraler Bedeutung. Der Lern- bzw. Entwicklungsprozess in der Kinästhetik ähnelt sehr dem künstlerischen Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozess im Atelier.
Gregory Bateson, ein englischer Anthropologe, Kybernetiker und Philosoph formulierte es so: „Informationen sind Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen!“ Ich interessiere mich sehr für diese Frage und der damit zusammenhängenden Fragestellung: Wie fein kann ich Unterschiede wahrnehmen? Die eigenen Grenzen der Möglichkeiten im Bereich der Wahrnehmung wollen immer wieder erweitert und verfeinert werden. Meine Arbeiten und Installationen sehe ich als Angebot, sich mit der eigenen Wahrnehmung forschend auseinanderzusetzen und sie zu sensibilisieren.

Wie entstehen deine Installationen? Ist der Prozess dabei ähnlich wie beim Male, oder ist die Herangehensweise grundsätzlich anders?
Eine Installation wird definiert als ein raumgreifendes, orts- bzw. raumbezogenes Kunstwerk. Eine Zeit lang entwickelte ich speziell angepasste Arbeiten für bestimmte Räume und Orte. Die Absicht, eine Zeichnung oder ein Objekt in den Raum hineinzutragen, um es dort auszustellen, hat für mich nicht funktioniert!
Die aktuelle Vorgehensweise würde ich als hybridartig beschreiben. Zum Teil entstehen Arbeiten für einen bestimmten Raum, ja auch inspiriert durch den jeweiligen Raum und zum Teil werden Zeichnungen, Objekte und Malereien, die im Atelier unabhängig von einer Ausstellung entstehen in den Raum hineingetragen, um dann mit den anderen Elementen in einem größeren Zusammenhang verortet zu werden. Interessant dabei ist das Ausloten der einzelnen Elemente untereinander. Wie stehen einzelne Arbeiten zueinander in Beziehung? Wie beziehen sie sich auf dem Raum? Wie Töne werden sie in Zusammenklang gebracht, wie Gewichte miteinander und in Bezug zum Raum austariert.
Spannend ist zu beobachten, wie jedes noch so kleine Element von Bedeutung ist und sich auf das Gesamte auswirkt, wie ein einzelner Mensch innerhalb einer Gemeinschaft. Eine Veränderung an einer Stelle kann sich gleich auf den gesamten Raum auswirken!
Die meisten meiner Zeichnungen und Malereien enden in Bezug auf ihre Wirkung nicht an ihrer materiellen Grenze, sondern weisen oftmals darüber hinaus, in den sie umgebenden Raum. Eine Zeichnung, Malerei oder ein Objekt ist für mich vollendet, wenn es Bezug nehmen kann auf die jeweilige räumliche Umgebung, und die räumliche Umgebung in Wechselwirkung mit der Arbeit tritt.
Die Frage, wie sich einzelne Gestaltungselemente aufeinander beziehen, ist auf der zweidimensionalen Fläche ähnlich wie im Raum. Der Prozess der Gestaltung sowohl auf der Bildfläche als auch im Raum wird stark durch den visuellen Sinn gelenkt, sowie vom Körper als Wahrnehmungs- und Gestaltungsinstrument. Durch den Gleichgewichtssinn und den kinästhetischen Sinn wird die Wirkung des Raumes und der Komposition wahrgenommen und austariert. Interessant dabei ist auch der Raum bzw. die Fläche zwischen den Elementen, die durch die Setzung der einzelnen Teile gestaltet wird bzw. die Verortung der einzelnen Elemente durch die Form des Zwischenraumes bestimmt wird.

Durch deine Kunst untersuchst du also, wie sich der Raum auf Körper auswirkt. Welche Rolle spielt das Umfeld, in dem du dich befindest, in deinem Leben?
Nun lebe ich seit fast 20 Jahren in Deutschland, in der Nähe von Bonn, wo die Landschaft weit und mit ein paar leichten Hügeln, weiten Wiesen, Feldern und Wäldern gestaltet ist und der Himmel sich darüber optisch ausdehnt. Der Horizont verläuft auf beinah gleichbleibender Höhe mit leicht geschwungener Linie. Diese Weite war in den Anfangsjahren gleichermaßen faszinierend wie herausfordernd in Bezug auf meine Orientierung. Wo ist Norden, Süden? … der Raum dehnt sich nach allen Seiten aus, in allen Richtungen ist Fortbewegung gleichermaßen möglich. Zudem verschob sich der gewohnte Blick auf den Horizont enorm!
Die Silhouette des Horizonts im Vinschgau, meinem Heimatort, verläuft gezackt. Sie umschreibt die überschaubare Fläche des Himmels, zu dem der Blick aus dem Tal nach oben gelenkt werden muss. Der Vinschgau ist klar geformt. Ganz reduziert beschrieben, ist es ein Haupttal, das zwei offene Richtungen beschreibt und vom Sonnen- und Nördersberg begrenzt wird. Die Berge bieten Klarheit, Orientierung im Raum und ein starkes Gegenüber.
Das physische Erfahren des massiven Gegenübers eines Berges, dessen Kraft und Widerstand, das Wahrnehmen der Reduktion, Konzentration und Intensität wie der Pflanzenformen, -farben und -düfte in der alpinen Höhe, das Licht und deren Wirkung prägten meine Wahrnehmung und beeinflussen meine künstlerische Auseinandersetzung.
Interessant sind die Unterschiede dieser zwei räumlichen Umgebungen und das jeweilige Verhältnis zwischen Masse, Körper und Raum. Während in den Bergen für mich Verdichtung, Konzentration und ein starkes Gegenüber erfahrbar wird, kann in der offenen, weiten Landschaft bezogen auf die physische Wahrnehmung Entgrenzung und Entspannung erfahrbar werden. Interessant scheint mir immer wieder das Gestalten und Beobachten des Zusammenspiels dieser beiden Polaritäten. Ich bin überzeugt, dass der Raum um uns herum, sei es die Stadt, die Landschaft als auch die Wohn- und Arbeitsräume, unsere Wahrnehmung und unser Handeln beeinflussen.

Stellst du durch deine Arbeiten deine Gefühle oder Gedanken dar oder geht es in deinen Werken eher um die Außenwelt? Und kann man die beiden Aspekte deiner Auffassung nach voneinander trennen?
Die Außenwelt, vor allem die Natur bzw. Naturphänomene, wie Licht und die entstehenden Farberscheinungen, der einen Körper umgebende Raum und die Materialität und Stofflichkeit sind Inspirationen für mein künstlerisches Schaffen. Die Absicht dabei ist aber nicht ein realistisches Abbilden oder Aufzeichnen von Naturwahrnehmungen an sich. Diese Eindrücke sind für mich meist aus folgenden Aspekten interessant, wie z.B. dem Verhältnis zwischen Körper oder Objekt und Raum, der Zeitlichkeit und Bewegung, den wahrnehmbaren Richtungen und vor allem der damit verbundenen körperlichen Wahrnehmung und Wirkung. Die Inspirationen sind mehr Impulse, woraus sich Skizzen und Arbeiten in Verbindung mit verschiedenen Materialien entwickeln können. Ein Farbverlauf kann auf einer Leinwand, genauso aber auch auf einer vieleckigen, unregelmäßigen Multiplexplatte oder einer MdF-Platte sichtbar werden. Inhalte, wie bestimmte Gedanken oder Gefühle, sind für mich nicht Motiv der Auseinandersetzung. Interessant ist für mich die Wahrnehmung und ihre Wirkung auf unseren Körper und auf die Bewegung. Die Arbeiten sehe ich als Angebot für Besucher:innen, sich mit der eigenen Wahrnehmung und der Wirkung auf den eigenen Körper auseinanderzusetzen und sich dabei ihrer Stimmungen, Gefühle und Gedanke gewahr zu werden.
Der offene Prozess der Auseinandersetzung von der Inspiration bis hin zur Installation ist mir wichtig: das Entdecken und Zulassen von Neuem, das Überraschtwerden … die stete Entwicklung!