Poesie in Papierform
Eleonora Cumer und ihr Blick auf die Welt

Eleonora Cumer © Martina Zaninelli
Eleonora Cumer © Martina Zaninelli
Ein roter Faden zieht sich durch Eleonora Cumers Kunstwerke, läuft über wortlose Seiten, vorbei an bedruckten Kartonkulissen, schlängelt sich durch Papierfalten und Oberflächen in verschiedenen Farbtönen, die ineinandergreifen, sich überlappen, einander überholen. Saubere Schnitte und grob gerissene Kanten verbergen Räume, die sich Stücke für Stück ent-falten und eine Narration von erstaunlicher Tiefe kreieren. Die Künstlerin braucht gar keine Worte, um zu erzählen. Ihre bunten Kreationen – Künstlerinbücher, dreidimensionale Strukturen aus Papier oder Stoff – erscheinen dicht und vielschichtig, aber dennoch verspielt. Und wenn man sich auf sie einlässt, bieten sie völlig neue Möglichkeiten, unser Umfeld, aber auch unser eigenes Innenleben zu betrachten.

Mit vielen verschiedenen Techniken, mit Farben, Druckverfahren, Nadel und Faden, Schablonen und Stoff erzählt Eleonora Cumer von sich selbst und ihrem Blick auf die Welt. Ihre Arbeiten waren bei zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen zu sehen. Für ihre Künstlerinbücher hat sie bereits etliche Preise und Auszeichnungen erhalten, darunter den Premio Stupor Sensibile (Libri mai mai visti), Premio Libcomelibrarsi (Libri fatti a mano) und Best International Apps & E-Books (Kirkus Reviews).
Im folgenden Gespräch erzählt uns die Bozner Künstlerin, wie man mit Schere, Schablone, Papier und Farbe die Welt erkunden kann.
Ich habe schon immer gern in Büchern geblättert, gelesen, gezeichnet und gemalt. Aber als ich das Künstlerbuch als Format entdeckt habe, hat sich mir eine neue Welt eröffnet. Es bringt meiner Meinung nach Malerei, Grafik und Skulptur zusammen. Meine Künstlerinbücher haben nicht die klassische Struktur des Buches, sondern werden meist vertikal positioniert. Man kann sie aus jeder Perspektive aufklappen, zuklappen, anschauen und lesen. Ich verwende jegliches Material, ohne mich an einen Text zu binden, denn ich will, dass es die Komposition ist, die in den Betrachter*innen etwas auslöst.
Ich schneide, reiße, kerbe und nähe, aber was ich dabei am meisten liebe, ist, dass es keine Grenzen gibt: Das Künstlerbuch hat keine Wände und der Raum rundum bleibt offen. Es besteht die Freiheit, einen Dialog mit der Betrachterin oder dem Betrachter zu führen. Das Buch kann aus Stoff, Papier, Glas oder Metall sein. Selbst die Seiten von Büchern, die schon fürs Altpapier bestimmt sind, können sich in etwas Neues verwandeln, und erhalten so ein zweites Leben. So kann eine Installation entstehen oder ein Gegenstand, der die traditionelle Form überwindet, um unzählige neue Ausdrucksformen zu erkunden. Das Künstlerbuch hat keine Grenzen: Es ist Materie, Raum, reines Experimentieren.



Wann hast du begonnen, Künstlerbücher anzufertigen?
Ich habe das Künstlerbuch vor fast 20 Jahren entdeckt und dann begonnen, an Wettbewerben teilzunehmen – ab 2007 wurden meine Arbeiten oft ausgewählt und das hat es mir ermöglicht, immer wieder neue Techniken und Ausdrucksformen zu erkunden, meinen Blickwinkel zu erweitern, aber auch meine Art, das Künstlerbuch als Kunstwerk zu verstehen.
Um diese Künstlerbücher zu realisieren, verwendest du viele verschiedene Techniken. Hast du eine Lieblingstechnik?
Ich experimentiere gern mit verschiedenen Techniken, denn jede bietet einzigartige Ausdrucksmöglichkeiten. Schablonen ermöglichen es mir, mit Farben zu spielen und Überlappungen zu kreieren, während der Linoleumdruck und der Kupferstich Tiefe schaffen und mehr Stofflichkeit verleihen. Mit Tusche arbeite ich instinktiv, durch Collagen entsteht Dreidimensionalität. Ich integriere auch gern unerwartete Elemente, zum Beispiel Faden und Stoff, die mit anderen Techniken interagieren. So entsteht eine Harmonie zwischen Material und Formen. Bevorzugte Technik habe ich eigentlich keine, weil ich innerhalb eines Projekts gern Verschiedenes ausprobiere und mich dabei von meinem Instinkt und der visuellen Erzählung leiten lasse. Welche Technik ich wähle, hängt auch immer davon ab, was ich erzählen möchte, von der Atmosphäre, die ich schaffen, und den Emotionen, die ich vermitteln möchte. Für mich ist jede Arbeit eine Reise, in der sich Zeichen, Farben und Stoffe zu neuen Erfahrungen verbinden.

Sind Material und Farbe gleichbedeutend in deiner Arbeit oder gibt es ein dominierendes Element?
Dominierendes Element gibt es keines in meiner kreativen Arbeit: Ich liebe es, Materialien und Farben frei zu kombinieren, ohne vorgegebene Muster. Auf meinem Tisch herrscht scheinbar Chaos; für mich ist es aber eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Ich arbeite vollkommen intuitiv und folge meinem Gefühl. Ich plane nicht gern im Voraus, sondern lasse mich von meinen Emotionen leiten, sodass die Gestaltung spontan erfolgt. In meinen Arbeiten versuche ich authentische Empfindungen unvoreingenommen wiederzugeben. Dabei setze ich mir keine Grenzen – weder bei den Techniken noch bei den Materialien. Wenn ich arbeite, spüre ich das Bedürfnis, das zu realisieren, was ich fühle, egal ob es Persönliches ist oder externe Erfahrungen von Außen sind, die mich berühren. So ergibt sich ein ständiger Dialog zwischen dem, was ich erlebe, und dem, was ich ausdrücke, ein spontanes Fließen von Emotionen und Intuitionen.
Wovon lässt du dich inspirieren und leiten, wenn du ein neues Projekt beginnst?
Ich lasse mich selten von Erzählungen oder Gedichten anderer Künstler*innen inspirieren. Meine Kreationen sind wirklich sehr persönlich. Ich versuche nicht, Wörter oder Visionen anderer neu zu interpretieren, sondern meinem Innenleben eine Stimme zu verleihen. Jedes Zeichen, jede gestalterische Entscheidung entsteht aus einem persönlichen Bedürfnis heraus. Sie sind ein authentisches Abbild meines Seins. Daher ist die kreative Arbeit für mich eine Art, mich selbst kennenzulernen und von mir zu erzählen – ganz ohne Filter.


Du bietest auch Kreativwerkstätten für Kinder und Erwachsene an. Wie sind diese aufgebaut?
Die Kreativwerkstätten beruhen auf meiner Arbeitserfahrung und werden an das Alter und die Bedürfnisse der Teilnehmenden angepasst. Alles ist darauf ausgerichtet, Kreativität durch das Experimentieren mit verschiedenen Techniken und Materialien zu fördern. Möglichkeiten gibt es viele: von dreidimensionalen Konstruktionen und Strukturen bis hin zu Pop-up-Büchern, vor allem aus farbigem Karton. Diese Werkstätten sind vor allem bei Lehrenden sehr beliebt, da sie sich Inspiration für ihren Unterricht holen und das Gelernte gern an ihre Schüler*innen weitergeben. Wenn ich mit Kindern arbeite, verwende ich meine illustrierten Alben als Ausgangspunkt für Aktivitäten, die das erzählende und das kreative Element miteinander verbinden, wobei das Buch zu einer greifbaren, konkreten Erfahrung wird. Etwas anders verhält es sich mit den Werkstätten für Künstlerbücher. Die sind in zwei Phasen unterteilt: In der ersten Phase geht es um die Technik. Die Teilnehmenden erlernen die Basis von Kreation, Komposition und von den expressiven Möglichkeiten, die das Buch als künstlerischer Gegenstand bietet. Im zweiten Teil werden wir kreativ: Jeder kann das anwenden, was er erlernt hat, indem er durch Experimentieren mit Materialien und Techniken den eigenen Ideen Gestalt verleiht. Diese Kurse sind sehr intensiv, normalerweise finden sie in Präsenz statt und dauern zwei ganze Tage, damit man vollkommen in den kreativen Prozess eintauchen kann.



Wie erlebst du diese Werkstätten?
Eine Werkstatt zu leiten ist auf jeden Fall etwas anderes, als selbst kreativ zu arbeiten, aber es ist nicht weniger wichtig. Man tritt mit den Teilnehmenden in Dialog, es entsteht ein Austausch, der beide Seiten bereichert. Immer lernt man etwas dazu, betone ich oft: Wenn man mit anderen Ansichten in Berührung kommt, ist das eine wunderbare Gelegenheit, gemeinsam zu wachsen.
Als Künstlerin ist man in seiner täglichen Arbeit oft allein im Atelier, man ist ganz in den kreativen Prozess vertieft, es gibt keinen direkten Austausch mit anderen. Deshalb sind die Werkstätten ein gemeinsamer Raum, in dem neue Ideen entstehen können und der Anregungen liefern kann. Der Dialog mit den Teilnehmenden eröffnet Perspektiven und regt zu Überlegungen an.
Woran arbeitest du derzeit?
Aktuell sind einige meiner Bücher in der Bibliothek Poletti in Modena ausgestellt, im Archivio di Stato in Rom, in einer Galerie in Neapel und in Santander in Spanien. Seit Mai 2024 arbeite ich an einer großen Installation, die Ende Mai 2025 in der Galerie für zeitgenössische Kunst des Palazzo Ducale in Pavullo nel Frignano in der Provinz Modena ausgestellt wird. Dort hatte ich bereits 2022/2023 eine Einzelausstellung. Parallel dazu forsche ich weiter zu Zeichen und geometrischen Formen, erkunde ihr Potenzial und ihre künstlerische Anwendung in Büchern, Skulpturen und dreidimensionalen Konstruktionen. Ich bereite Werkstätten vor, indem ich mit Materialien und Techniken experimentiere, um neuen Ideen eine Form zu verleihen. Es gibt immer etwas zu tun und es scheint, als sei die Zeit immer zu knapp, um jede Intuition in die Realität umzusetzen.
