
Prospettiva comune, Esther Stocker, © MAXXI und Atac Roma, Foto von Costantino Artino
Kissing Squares, Anarchy of Forms, SANS LIMITE, Geometrisches Glück: Liest man die Titel der langen Liste von Esther Stockers Einzelausstellungen, so fällt auf, dass geometrische Formen und die räumliche Dimension in ihren Arbeiten eine primäre Rolle einnehmen. Die aus Mals im oberen Vinschgau stammende Künstlerin stellte bereits in vielen europäischen Ländern, aber auch in Asien und den Vereinigten Staaten aus. Im Sommer 2024 gestaltete sie eine U-Bahn-Station in Rom, von September bis Anfang November war eine ihrer riesigen Installationen im MAXXI – Museo nazionale delle arti del XXI secolo zu sehen.
In ihren Arbeiten erkundet sie die Funktionsweise von Systemen mit deren eigenen Mitteln. Was sehr abstrakt klingt – und auf den ersten Blick auch so aussieht – ist im Grunde ein fast spielerischer Prozess, der zeigt, dass der Raum oder die Bildoberfläche nicht immer so klar definiert ist, wie man meinen könnte – egal ob es sich um ihre sogenannten Knitterskulpturen handelt, um Gemälde oder um Installationen, die oft auch ganze Fassaden oder mehrere Räume umfassen. Geometrische Muster in Schwarz-Weiß-Grau breiten sich aus, folgen scheinbar einem präzisen Rhythmus, bis sie von einem unerwarteten Element unterbrochen werden. Die Werke sind nicht nur ästhetisch eindrucksvoll, sondern werfen auch die Frage auf: Können Ordnung und Unordnung gleichzeitig existieren? Oder sind es nur zwei unterschiedliche Arten, dasselbe Muster zu betrachten? Aus einem Knick in der Linienführung, der von dem ursprünglichen Motiv abweicht, oder einem veränderten Abstand, kann sich eine neue Perspektive ergeben. Und wenn man sich auf das Spiel der Formen einlassen kann, ist man sich schon bald gar nicht mehr sicher, welches nun denn das ursprüngliche Motiv war.
Esther Stocker nimmt uns so mit auf eine erstaunliche Reise durch die Welt der Formen, die mitunter dazu anregen können, das Gewohnte einmal anders zu betrachten. Was sie inspiriert und wie sie ihre Ideen umsetzt, erzählt sie in diesem Interview.
Was ist das zentrale Anliegen deiner Arbeit?
In meiner Arbeit versuche ich, formale Gegensätze aufzuzeigen. Ich arbeite meistens mit geometrischen Formen und in Schwarzweiß. Mich fasziniert das Zusammenspiel von Formen und welche Arten der Kommunikation dabei entstehen. Wie wir uns visuell, mental und als Körper in Systemen orientieren. Auch, wie wir Systeme verändern können. Manchmal möchte ich auch eine Art mentalen Kurzschluss erzeugen und dadurch das Denken aufwecken.

Letzten Sommer hast du die U-Bahn-Station Vittorio Emanuele in Rom in ein großes Kunstwerk mit dem Titel Prospettiva comune verwandelt. Wie ist dieses Kunstwerk entstanden und welche gemeinsame Perspektive kann es bieten?
Es ist gemeinsam mit dem MAXXI in Rom entstanden, da es eine Verbindung zu der Ausstellung Ambienti herstellen sollte. Darüber hinaus sollte ganz einfach das Bild der Station erneuert werden, und das war auch ein expliziter Wunsch von ATAC, die mit MAXXi an dem Projekt zusammengearbeitet haben. Ich habe für diese Idee sofort zugesagt, da ich mir selbst schon oft gewünscht habe, dass es Erneuerungen durch Kunst in der U-Bahn von Rom geben sollte. Auch finde ich, es sollte mehr Zeichen der Gegenwart in dieser schönen Stadt geben.
Bei Prospettiva comune handelt sich um ein sich immersives Kunstwerk. Wir wirkt es sich auf die Wahrnehmung des Raumes aus?
Ich hoffe auf eine Art Verwandlung, Transformation, da es mich besonders interessiert, wie sich grafische Zeichen und abstrakte Ideen an der Wirklichkeit messen. An einer Realität von Alltag und Gebrauch. Und ich würde mir wünschen, dass es eine Art Überraschung ist, wenn man die Station betritt. Die Kuratorin Valeria Dellino hat es cattedrale Metropolitana genannt, ich fand das einen sehr interessanten Gedanken. Mir gefällt persönlich die Idee, dass die soziale Interaktion auch eine Geometrie besitzt.


Wie gehst du bei einer Arbeit mit solchen Ausmaßen vor?
Ganz ähnlich wie auch bei anderen Arbeiten. Ich mache eine Zeichnung und versuche zuerst, mich nicht zu sehr an den realen Bedingungen zu orientieren und auch nicht an den realen Dimensionen. Ich gehe von meiner Vorstellungswelt und Imagination aus, die sich unbedingt abheben soll von einer zu bekannten Realität.
Die Rastermotive in Schwarz, Weiß und Grau sind ein wiederkehrendes Thema deiner Kunstwerke. Haben sich diese im Laufe der Zeit verändert?
Ja, ich entwickle diese Formen ständig weiter, und ich suche immer neue Lösungen für ähnliche Themen.
Mit Ihrer kreativen Arbeit erforschst du unter anderem, wie kleine Abwandlungen in geordneten Systemen zu neuen Sichtweisen führen können. Was passiert mit den alten Ideen und Erwartungshaltungen, wenn sich die Perspektive ändert?
Die alten Ideen müssen sich verändern. Ich hoffe, dass sich diese verändern. Ohne Veränderung gibt es ja kein Leben und auch keine Hoffnung mehr. Aus der Richtung der Form gedacht, ist es interessant, dass Veränderung Entwicklung, Kollaps oder Dialog sein kann. Oft sind es nur Übergänge des gleichen Zustandes. Die Aufmerksamkeit dreht sich. Manche Dinge können sich aber auch verwandeln und vieles kann gleichzeitig existieren. Das passt irgendwie ganz gut zu Rom. Die Stadt ist ja wie ein Spaziergang durch die Geschichte, dabei finde ich wichtig, dass man irgendwann auch in die Gegenwart eintritt, oder dass zumindest Zeichen der Gegenwart mit dem Vergangenen sprechen. Ich hoffe, dass noch mehr in dieser Richtung passieren wird.