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October 23, 2024
ViaDante Collective: draußen sein, die Stadt leben, Alternativen bieten
Ludwig Mehler
Normalerweise kennt die Romstraße eine solche Aufregung nur vom Stoßverkehr der abendlichen Rushhour … Doch mittendrin zieht am 4. Oktober 2024 nicht der Verkehr auf der Straße, sondern der Gehsteig rund um den Kiosk Begum Afia an der Dalmazienstraße 2 das Leben des Viertels für einen Abend in seinen Bann – denn das ViaDante Collective gibt sein Veranstaltungs-Debüt mit Edicola Takeover.
Anwohner*innen, die sich ihren Weg durch die Traube junger Studierender rund um den Kiosk bahnen, Passant*innen, die sich an den Fenstern vorbeifahrender Busse erstaunt die Nasen plattdrücken. Aus großen Boxen schallen die House- und HipHop-Beats einiger Kollektiv-Mitglieder, Bier, Magazine und Sticker – alles auf freiwilliger Beitragsbasis. Sehr studentisch eben … jedoch nicht wie jede übliche Studi-Party. Mit dem Takeover sorgt das Kollektiv vier Stunden lang für eine regelrechte Migration der Studierenden-Bubble jenseits des Talferbachs – und das an eine Kreuzung in einer Zone Bozens, die zwar sehr belebt, eigentlich aber fern von studentischem Aufruhr ist.Das sechsköpfige Kollektiv setzt sich zusammen aus den Design-Studierenden Tommaso Ciccotti, Alessia Farinola, Luis Richter und Gabriele Sponsiello sowie den PPE-Studierenden Samuele Aprea und Alessandro Nolet Magnante, die ihr Kollektiv im Juli 2024 geformt und nach der Straße ihres Heim-Studios benannt haben. Als Teil der „Minderheit Studierende“ in Bozen sahen sie sich neben den üblichen Studierenden-Partys und -Hotspots einer gewissen Alternativlosigkeit ausgesetzt. In Bozen brauche es Wahlmöglichkeiten, um das zu erleben, was die Studienzeit ausmacht, erklärt Mitglied Alessandro: Neue Erfahrungen, das Nachtleben, Subkultur im urbanen Raum, das Einbringen in einen neuen Lebenskontext, das Integrieren des Gelernten in die städtische Realität.
„Es ist Zeit, ein bisschen Lärm zu machen“
Lärm, der nötig ist, wie die Mitglieder des Kollektivs beschreiben. Lärm versteht sich hierbei nicht im Sinn akustischer Umweltverschmutzung zum Leidwesen der Anwohner*innen, sondern im Sinn von kollaborativer Bewegung, kulturellem Austausch, vom Zusammenbringen verschiedener Teile des urbanen Raums. Als Gruppe Studierender geht es den 6 darum, eine Blase zum Platzen zu bringen, oder für diesen Abend dieser Blase zumindest den nötigen Windstoß zu verpassen, um sich dem Bozen jenseits des studentischen Wirkungs- und Lebensraums im Zentrum auszusetzen. Sie wollen die Stadt als diversen urbanen Raum, der sie nun mal ist, für junge Leute erlebbar machen, und schließlich die Stadt leben, statt sich das Leben, ganz nach der Bozner Art, von Bequemlichkeit und Langeweile diktieren zu lassen, und sich über fehlende Perspektiven zu beschweren.„Alle Studierenden kommen nach Bozen und sagen man müsste was machen, etwas verändern, weil es ziemlich langweilig ist. Tatsächlich hat Bozen als große Stadt vieles zu bieten, nur keine*r geht es an. Keine*r verändert wirklich was, weswegen wir Lust haben, den ersten Schritt zu machen und Alternativen anzubieten.“
Via Dante will den ersten Schritt machen, kulturellen Austausch fördern, sozial abgegrenzte Räume und Sphären verbinden und somit die Stadt aktiv mitgestalten. Dabei wollen sie nicht als Retter*innen des universitären Lebens oder lediglich als Veranstalter*innen gesehen werden: „Wir wollen nicht die Stadt verändern, sondern die Sicht der Leute auf die Stadt, in der sie leben.“ Dazu gehöre zum einen das Sichtbarmachen studentischer Kultur außerhalb der universitären Blase, zum anderen auch die eigene Konfrontation mit Bozner Lebensrealitäten.
Dieses Bewusstsein will ViaDante durch verschiedene Veranstaltungs-Formate und Kollaborationen wie die des Takeovers schaffen. Diese Idee zeigt besonders gut, wie der kollaborative Ansatz eines wirklich alternativen Angebots auch in Bozen fruchten kann. Im Rahmen der Takeovers sollen Orte des kulturellen urbanen Lebens mit einer Veranstaltung neu erweckt werden und somit Konfrontationen bewirken, die im Alltag vielleicht nicht stattgefunden hätten. Im Fall des ersten Edicola Takeover heißt das konkret, die soziale Kraft der Alltags-Ikone Kiosk zu feiern und sie anhand eines Magazins und verschiedener Zusammenarbeiten zu veranschaulichen. Laut Gründungsmitglied Samuele konnte das Kollektiv für das erste Event „nicht nicht beim Kiosk anfangen“ und somit für den Launch ihrer eigens produzierten ersten Ausgabe des ViaDante Magazine.In wochenlanger Handarbeit hatten die Studierenden in den Werkstätten der Universität 100 Exemplare ihrer ersten Ausgabe über die Krise der Kioske und des Verlagswesens produziert – wie von Design-Studis zu erwarten, in originellem, makellosen Layout-Design und mit beeindruckenden Illustrationen, gedruckt mit dem Risographen in ikonisch zweifarbigem Look. Die Inhalte sind wohl kuratiert und verfolgen eine Kohärenz, welche die Vision des Kollektivs mit einem Ausblick über die sozio-kulturelle Bedeutung italienischer Kiosks, sowie mit Interviews von namhaften Stimmen aus der Welt des Verlagswesens in Verbindung setzen. Das Magazin war ausschließlich am Tag des Takeovers in Papierform erhältlich, ganz nach dem auf ihrem Plakat proklamierten Motto: Digital is Porn. Print is Sex. Trust the Paper. Zynisch könnte man jetzt sagen: „Wow, ein weiteres Studierenden-Magazin aus der Kunst und Design-Fakultät der Uni soll die große neue Alternative sein?“ Doch ViaDante Magazine ist nicht einfach nur eine weitere Grafik-Spielerei. Design werde in ihren Aktivitäten als Kollektiv immer eine Rolle spielen, da die Mitglieder durch ihre Studienerfahrung an der unibz die transformative Kraft des Designs erkannt haben. Design ist in diesem Fall das Instrument, um die Identität und den sozialen Wert des Kiosks an die Leute zu kommunizieren. Mitglied Gabriele erklärt, dass Design-Elemente wie die Sticker in Briefmarkenform, das Schild, das am Kiosk installiert geblieben ist, und letztlich das Magazin in ihrer Ästhetik das widerspiegeln, was der Kiosk als soziales und funktionales Symbol bereits ausstrahlt: Ein Ort der generationsübergreifenden und diversen Zusammenkunft, des Austauschs, der freien Information und des Alltags im wahren Leben der Wohnviertel zu sein.
Das Format des Takeovers erlaube ihnen somit, den Ort nicht nur in einen neuen Kontext zu setzen und ihn für junge Leute erfahrbar und attraktiv zu gestalten, sondern ihn in seiner Funktion wertzuschätzen und diese Funktion in ein „größeres Narrativ“, eine transformative Energie umzusetzen. Ob die Leidenschaft für Design in Zukunft ähnlich mit weiteren Ausgaben des Magazins oder durch andere Gimmicks und Publikationen zu tragen kommt, wird bewusst offengehalten.
„Das Endprodukt bleibt die Identität des Orts, diesem wird lediglich ein neuer Zugang eröffnet. Wir haben den Ort nicht verändert, wir haben nur seinen inneren Wert herausgestellt und somit die Wahrnehmung des Ortes und den Bezug der Menschen zu ihm herausgefordert.“Für den Launch der ersten Ausgabe des Magazins erwies sich der Kiosk als perfekter Ort, da er die Interessen der Mitglieder anspricht und gleichzeitig den Kern ihrer Vision verkörpert: Die Stadt zusammen zu leben. Auch für die interessierten Passant*innen, die über die vierstündige Veranstaltung zu Haufe Interesse zeigten, wurde schnell deutlich, dass es sich um ein ehrliches Leidenschafts-Projekt handelt – und diese Konsequenz macht letztlich die Qualität von ViaDante aus. Mit der Metapher des Kiosks gelang es, Studierenden neue Interessen, neue Stimuli in die Hand zu geben, sie neue Sachen entdecken zu lassen – ebenso wie einst am Kiosk wollen sie eine „terra di mezzo“ schaffen, einen Ort der demokratischen Vervielfältigung.
Die Kiosk-Krise ist dabei nicht das einzige Problem, auf das sie aufmerksam gemacht werden soll. So wird auch die Krise des Verlagswesens und des Print-Mediums im ViaDante Magazine thematisiert. Neben interessanten Interviews mit Stimmen aus der Branche des Editorial Designs und der großen Redaktionen, kristallisiert die Zeitschrift eine der Krise entgegenwirkenden Tendenz heraus, die der Demokratisierung der Verlagskultur durch das vermehrte Aufkommen von Mikro-Verlagen, Autoproduktionen, unabhängigen Magazinen, fanzines … – eine Tendenz, in die sich das Projekt ViaDante Collective bestens einfügt.
Es ist genau diese Kohärenz in den verschiedenen Aspekten ihres Projekts, die dem Kollektiv die Glaubwürdigkeit verleihen könnte, die sie sich vom Launch erhofft hatten.Das Kollektiv will Katalysator und Motivator sein für alle, die Bozen ebenso zum Positiven verändern wollen. Für das erste Event an der Romstraße wurden somit Organisationen, Projekte und Installationen einbezogen, welche die Stadt leben bzw. die subkulturelle urbane Transformation im Sinne des ViaDante Collective nach vorne treiben. Die am Kiosk ausgestellten Kollaborationen für Edicola Takeover umfassten Lungomare, Sk8project Bolzano, Draft Masters sowie Projekte der Design-Studierenden Arthur Ottman und Mathilda Holthaus. Die wichtigsten Kollaborationen für weitere Veranstaltungen der Gruppe seien jedoch die der Veranstaltungs-Räume selbst. Junge Initiativen hätten es schwer Bozen „als Stadt zu leben“, da Genehmigungen und Förderungen oft nur schwierig zu erlangen seien, erklärt Mitglied Alessandro. Ihr Vorhaben mit Edicola Takeover wurde für unmöglich gehalten, sie erhielten Absagen von allen angefragten Kiosks in der Zone – bis der junge Kiosk-Betreiber Marwan Rahman ohne zu zögern für das Event zusagte. Keine Miete, keine Konditionen, außer den Kiosk so zu hinterlassen, wie vorgefunden. Der Kiosk Begum Afia sei als langjähriges Familienunternehmen und Ikone des Viertels der perfect fit für ViaDante. Die Mitglieder erzählen begeistert von der Offenheit und Hilfsbereitschaft der Kooperation, die ihr Debüt zum Erfolg gemacht hat. Beflügelt von diesem Erfolg haben sie vieles vor. Bei der Ausarbeitung neuer Formate werde des Konzept Takeover immer eine große Rolle spielen. Mal größer, mal kleiner, immer mit einem anderen Thema. Jedoch immer mit dem Willen, etwas Neues zu schaffen, die Sicht der Leute auf die verschiedenen Facetten des Lebens in der Stadt zu ändern, um somit ein proaktives Zusammenleben in der Stadt zu bewirken – und natürlich eine divers belebte Studierendenszene …Interesse und Begeisterung des Publikums zeigen eindeutig, dass der erste Schritt in diese Richtung gemacht ist. Die 100 Kopien des Magazins waren nach zwei Stunden vergriffen, die Veranstalter glücklich, und was bleibt, ist lediglich der Banner über dem Kiosk Begum Afia – als Symbol dafür, die Stadt und ihre Akteur*innen mal mit anderen Augen zu sehen.
Fotos: (2) © Ludwig Mehler; (1, 3, 8, 9, 10, 11) Kollaborationen © Rosa Klingholz, (12) Kioskbesitzer Marwan Rahman © Rosa Klingholz, (13) © Rosa Klingholz, (4, 5, 6, 7) © Alessia Farinola
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