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August 23, 2024
„Countdown to Mass Extinction?“ – Ein Stück Erdgeschichte in den Dolomiten
Greta Ferrari
Wenn man am Seceda hochblickt, ist es schwer, sich vorzustellen, dass sich hier vor Jahrmillionen vielgestaltige Meeresbewohner tummelten: Nautiloiden, Muscheln, Kalkalgen, Muschelkrebse. All diese Tierchen haben in den imposanten Felsformationen der Dolomiten ihre Spuren hinterlassen, so zum Beispiel die Bellerophon-Schnecke, die sich wohl hauptsächlich von Algen ernährte und der Bellerophon-Formation in den Südalpen ihren Namen gab.
Die beeindruckende Vielfalt des submarinen Lebens zeigt sich in den Fossilien aus den Gesteinsschichten. Doch vor rund 252 Millionen Jahren geschah auf unserem Planeten etwas, das die Lebensbedingungen und die Ökosysteme einschneidend veränderte: Die Naturgewalt erwachte. Massive Vulkanausbrüche in Sibirien führten dazu, dass sich verschiedene Treibhausgase, z. B. Kohlendioxid, in großen Mengen in der Atmosphäre ansammelten, wodurch das Gleichgewicht des Planeten Erde nachhaltig beeinflusst wurde. Es kam zu einer starken Erwärmung, sodass sich die Lebensbedingungen von Tieren und Pflanzen deutlich veränderten. Dies führte schließlich zum größten Massenaussterben der Erdgeschichte, bei dem ein Großteil der auf dem Planeten beheimateten Arten ausstarben.
Auch über diese Ereignisse geben die Gesteinsschichten uns natürlich Auskunft. Was sich aus ihnen erschließen lässt, zeigt die Wechselausstellung Countdown to Mass Extinction? im Museum Ladin Ciastel de Tor in Sankt Martin in Thurn im Gadertal, die bis zum 03. November 2024 zu besichtigen ist. Anhand von Fossilien aus der Bellerophon- und der Werfen-Formation kann man die beeindruckende Vielfalt des Lebens vor dem Ausbrechen des sibirischen Vulkans am Ende der Permzeit und die Monotonie danach beobachten. Die Ausstellung stellt außerdem eine Verbindung zu unserer Zeit her und wirft die Frage auf, ob wir uns aufgrund der Klimaveränderungen auf der Erde ebenfalls auf ein Massensterben zubewegen.Mehr zu dieser interessanten Ausstellung im Gadertal, bei der man einen gigantischen Zeitsprung in die Vergangenheit machen kann, erzählt uns der Kurator Herwig Prinoth:
Die Ausstellung trägt den Titel „Countdown to Mass Extinction?“. Warum das Fragezeichen am Ende?
In der Vergangenheit hat es bereits fünf Massenaussterben gegeben. Steuern wir auf das sechste Massenaussterben zu, wenn wir so weitermachen wie bisher? Hat dieser Countdown bereits begonnen? Diese schwierige und wichtige Frage versuchen wir durch unsere Ausstellung zu beantworten, denn sie betrifft uns alle. Die Uhr tickt – wie viel Zeit bleibt uns noch?
Wie wurde die Ausstellung konzipiert? Gibt es eine gewisse Themenabfolge bzw. ein Grundmuster?
Die Ausstellung basiert auf einer wissenschaftlichen Studie, die ich 2023 zusammen mit Prof. Renato Posenato von der Universität Ferrara veröffentlicht habe. Im Fokus dieser Studie stehen fossile Muscheln, die vor dem Massenaussterben am Ende der Permzeit im Meer lebten, welches damals das Dolomitengebiet bedeckte. Wir konnten die beeindruckende Biodiversität vor der Katastrophe dokumentieren und sie mit den wenigen Arten vergleichen, die das Massenaussterben überlebten.
Dank dieser und vieler weiterer Studien sind wir das erste Museum weltweit, das eine Ausstellung zu diesem wichtigen Thema organisiert hat. Unsere umfangreiche Fossiliensammlung spielt dabei eine zentrale Rolle. Das Museum Ladin hat sich stets spannenden Themen aus Archäologie, Geschichte und Paläontologie gewidmet. Diese Ausstellung reiht sich in unsere bisherigen Ausstellungen ein, die sich mit dem Urweg Troi Paian, den Schalensteinen, der Höhlenwelt der Dolomiten und aktuell mit dem Massenaussterben am Ende der Permzeit beschäftigen.Vor 255 Millionen Jahren sah unser Planet noch ganz anders aus. Das heutige Dolomitengebiet lag in der Nähe des Äquators. Davon zeugt beispielsweise die Bellerophon-Formation am Seceda in St. Ulrich. Was erzählt uns die Gesteinsformation aus jener Zeit?
Vor 255 Millionen Jahren sah unser Planet tatsächlich ganz anders aus. Das heutige Dolomitengebiet lag damals in der Nähe des Äquators, wie die Bellerophon-Formation, der Seceda in St. Ulrich und viele weitere Aufschlüsse in den Dolomiten bezeugen. Diese Gesteinsformationen erzählen uns von einer Zeit, als unser Gebiet etwa auf dem 15.–20. Breitengrad lag, vergleichbar mit der heutigen Lage von Ländern wie Oman oder Niger. Heute befinden wir uns ungefähr auf dem 46,5. Breitengrad, was bedeutet, dass das Dolomitengebiet seitdem um etwa 3.500 km nach Norden verschoben wurde.
Wir waren damals Teil des riesigen Ozeans Tethys und unser Gebiet lag im Küstenbereich. Die Küste erstreckte sich westlich, in Richtung Tramin, während das Meer nach Osten hin immer tiefer wurde. Gröden und das Gadertal waren von einem tropischen Meer bedeckt, das von einem üppigen Leben erfüllt war. Es gab unzählige Muscheln, Nautiloiden (Verwandte des heute noch lebenden Nautilus), Fische und Brachiopoden, insbesondere die Schnecke Bellerophon, nach der die Gesteinsschichten benannt wurden. An einem bestimmten Punkt innerhalb dieser Schichten erlischt das Leben plötzlich vollständig und es gibt keine Versteinerungen mehr. Dies deutet darauf hin, dass das einst so üppige Leben schlagartig ausgelöscht wurde, ganz eindeutig durch das Massenaussterben am Ende der Permzeit.In der Ausstellung geht es unter anderem um die Muschel Claraia, die sich an die Veränderungen nach dem Vulkanausbruch vor ca. 252 Millionen Jahren anpasste. Was bedeutet dies im übertragenden Sinne, wenn man den Bogen in unsere Zeit schlägt?
Claraia war ein Überlebenskünstler, wie viele der Muscheln, die im Tethys-Ozean vor dem Massenaussterben lebten. Diese Muscheln bewohnten küstennahe Gebiete, die extremen und wechselnden Umweltbedingungen wie einem schwankenden Salz- und Sauerstoffgehalt, hohen Meerestemperaturen und einem ständigen Sedimenteintrag durch Flüsse ausgesetzt waren. Ihre Anpassungsfähigkeit half ihnen, das Massenaussterben zu überleben, während viele andere Organismen verschwanden. Nach dem Motto „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ konnten Muscheln wie Claraia nach der Katastrophe neue Lebensräume besetzen, die zuvor von anderen Schalentieren, wie den fast vollständig ausgestorbenen Brachiopoden bewohnt wurden.
Übertragen auf unsere heutige Zeit bedeutet dies, dass Organismen, die bereits an extreme Bedingungen angepasst sind, die besten Chancen haben, Umweltkatastrophen zu überleben. Solche Generalisten können sich schnell an verschiedene Lebensräume anpassen, verschiedene Nahrungsquellen nutzen und sich rasch vermehren. Beispiele aus der heutigen Zeit sind Ratten und Kakerlaken, die sich in widrigen Umgebungen behaupten können.In der Ausstellung werden auch die Konsequenzen des Klimawandels in Südtirol thematisiert sowie mögliche Lösungen, um beispielsweise Emissionen zu reduzieren. Welche Veränderungen sind diesbezüglich notwendig?
Seit letztem Jahr verfügt Südtirol über ein wertvolles Instrument im Kampf gegen den Klimawandel: den Klimaplan Südtirol 2040. Dieser Plan, der kostenlos im Internet heruntergeladen werden kann, listet detailliert alle notwendigen Maßnahmen auf, die zur Rettung des Klimas beitragen können. Auf internationaler Ebene gibt es das Pariser Abkommen, das 2016 in Kraft trat und ebenfalls als Leitfaden dient.
Diese wertvollen Pläne werden aber oft ignoriert. Ein hervorragender Klimaplan allein reicht nicht aus – er muss auch umgesetzt werden. Die Politik spielt eine zentrale Rolle, aber das Umdenken muss bei uns allen beginnen. Wir können nicht erwarten, dass Politiker Klimaschutzmaßnahmen durchsetzen, wenn die Bevölkerung nicht bereit ist, diese anzunehmen und umzusetzen.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Menschheit die große Gefahr erkennt. Ohne Maßnahmen gegen den Klimawandel steuern wir auf ein neues Massenaussterben zu. Die Phänomene, die zu dem Massenaussterben vor 252 Millionen Jahren führten, sind heute wieder präsent. Damals waren es Vulkane in Sibirien, die Unmengen CO2 in die Atmosphäre pumpten. Heute übernehmen wir diese Rolle, indem wir jährlich mehr CO2 produzieren als die Vulkane damals. Der Treibhauseffekt beschleunigt sich, immer mehr Meeresgebiete leiden unter Sauerstoffmangel, und die Übersäuerung der Ozeane schreitet voran. Diese Veränderungen erschweren es schalenbildenden Organismen, ihre Strukturen aufzubauen, was die gesamte Nahrungskette bedroht.
Diese Phänomene sind bereits heute beobachtbar, wenn auch noch nicht so extrem wie am Ende der Permzeit. Doch die Auswirkungen des Klimawandels werden immer gravierender, und ohne entschlossenes Handeln wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis diese Prozesse außer Kontrolle geraten.
Der Klimawandel beschäftigt uns nicht erst seit gestern. Warum geht es mit den Lösungen so schleppend voran?
Das Problem liegt oft im mangelnden Verständnis und Bewusstsein für die aktuelle Lage. Viele Menschen haben noch nicht erkannt, wie gravierend die Situation ist und wie dringend konkrete Maßnahmen erforderlich sind. Der Klimawandel scheint unser Leben noch nicht stark genug zu beeinflussen, sodass die Dringlichkeit nicht überall wahrgenommen wird. Zwar erleben wir Wasserknappheit im Sommer oder wärmere Winter, doch viele nehmen diese Veränderungen nicht ernst genug, da sie temporär oder durch Technologien wie Schneekanonen kompensiert werden.
Hinzu kommt, dass extreme Wetterereignisse als „normal“ abgetan werden, da es solche Ereignisse schon immer gab. Doch hier liegt ein gefährlicher Irrtum: Während frühere Klimaveränderungen lokal begrenzt waren, erleben wir heute einen globalen Klimawandel, der das gesamte Erdklima verändert. In klimatisch begünstigten Regionen wie den Alpen merken wir die Auswirkungen langsamer, während andere Gebiete bereits jetzt massiv unter Dürren und extremen Temperaturen leiden.
Ein weiteres Hindernis ist die Wahrnehmung, dass die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels erst in der Zukunft eintreten werden. Viele Menschen sind nicht bereit, ihren Lebensstil zu ändern, weil sie glauben, dass die Folgen sie nicht betreffen. Warum sollte man heute auf etwas verzichten, wenn die Auswirkungen erst zukünftige Generationen betreffen? Weniger Auto zu fahren, weniger Fleisch zu essen oder weniger Flugreisen zu machen, scheint für den*die Einzelne*n nur Einschränkungen zu bedeuten. Dass uns zukünftige Generationen verfluchen könnten, weil wir trotz besseren Wissens nichts unternommen haben, kümmert die meisten Menschen nicht. Dabei ignorieren sie, dass heutige Maßnahmen entscheidend sind, um zukünftige Katastrophen zu verhindern.
Die Gefahr ist real: Ohne Gegenmaßnahmen könnten wir in den nächsten Jahrhunderten eine Erwärmung erleben, die das Klima destabilisiert und ein Massenaussterben auslöst. Die Studie von Justin L. Penn und Curtis Deutsch aus dem Jahr 2022, veröffentlicht in der Zeitschrift Science, warnt davor, dass wir bei ungebremsten CO2-Emissionen in 200 Jahren eine Temperaturerhöhung von über 5 Grad Celsius erreichen könnten. Dann schlittern die Ökosystem in ein massives Artensterben, das sich in 300 Jahren zu einem Massenaussterben entwickeln könnte.
Es gibt jedoch Hoffnung. Im Gegensatz zu den Dinosauriern, denen ein Meteorit auf den Kopf gefallen ist, oder zu den Lebewesen während des sibirischen Vulkanismus vor 252 Millionen Jahren, haben wir das Wissen und die Möglichkeit, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen. Mit einer guten Klimapolitik und einem bewussten Lebensstil können wir das Ruder noch herumreißen. Der Countdown hat bereits begonnen, aber wir haben immer noch die Chance, das bevorstehende Massenaussterben zu verhindern.
Bilder: (1, 2) MUSEUM LADIN, Countdown To Mass Extinction, (c) GUSTAV WILLEIT; (3) Pangea, Tethysozean (c) Museum Ladin; (4) Claraia clarae (c) Museum Ladin.
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