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June 13, 2024

„Di Loschn au, di Augn au, di Oarn au“ *

Kunigunde Weissenegger

* Zitat von Annalena Tappeiner, Steinmetzin und Protagonistin, im Dokumentarfilm „Vinschgau: Gehen oder bleiben?“ von Sarah Trevisiol, Simon Mariacher und Marco Telfser.

Die Bevölkerung überaltert, wird hundert und mehr, nicht nur in Südtirol. Klar, dass die Alternden viel daran setzen, (ihre) Macht und Strukturen aufrechtzuerhalten. Aber ewig leben werden auch sie nicht … Was Hänschen nicht geschafft hat, wird Hans nimmermehr schaffen – meinten schon die Alten … 

Ist der Lebensstil „hier“ wirklich so hoch? Ist ein gutes Einkommen das einzig Wahre? Wie soll jemand hier bleiben (wollen), wenn’s keine bis wenig leistbare Plätze zum Unterkommen gibt? Was führt Menschen dazu, von hier wegzugehen? Wo sollen sie hin, wenn sie hier keinen Raum zur Entfaltung kriegen? Wie viel Konservativismus erträgt eine Gesellschaft? Wie viel Soziales braucht ein Mensch zum Überleben? Was ist Brache? Wie wollen wir heute schon leben? Wie wollen wir morgen arbeiten? Wem vertrauen? … 

Die Veranstaltungsreihe „Südtirol: Gehen oder Bleiben?“ mit Vorführung des Dokumentarfilms „Vinschgau: Gehen oder bleiben?“ und anschließender Diskussionsrunde versucht diese Fragen und etliche weitere Problematiken auf den (Stamm-)Tisch zu bringen, zu besprechen und vor allem zum Allgemeinthema zu machen. Denn es betrifft uns echt alle, wenn Dörfer und Täler menschenleer stehen, verwildern und absterben – ein Blick in den nahen Süden reicht …   

Sicher ist es nicht der erste Film ist, der diesen Titel trägt. „Gehen oder Bleiben“ – das Thema taucht alle paar Jahrzehnte, in diversen Formen auch hierzulande immer wieder auf … die Frage stellt sich wahrscheinlich jede (zweite) Person einmal in ihrem Leben … Was Sarah Trevisiols Dokumentarfilm so besonders macht, ist die Tatsache, dass uns diese aktuellen Geschichten nahe gehen dürfen, weil die acht Projekte vor unserer Haustür passieren, die Protagonist*innen gleich ums Eck wohnen und leben und alles so konkret ist, wie der Kaffee und Tee morgens in der Tasse und Semmel oder Vinschgerle auf dem Teller …

Dramatisch wie teilweise die Stimmen, die zu Wort kommen, klingt die Musik … doch (anscheinend) besteht Hoffnung – wenn jetzt viele von uns etwas tun, ins Handeln kommen (dürfen). Im Interview erzählt Filmemacherin Sarah Trevisiol, was das Filmteam bewegt, beschäftigt und sich vorstellt …

Warum dieser Film?

Sarah Trevisiol: Unser Dokumentarfilm versucht dem Brain-Drain auf die Spuren zu gehen und zu verstehen, wieso so viele junge Menschen mit einer Ausbildung – d. h. einer akademischen als auch einer handwerklichen oder Ausbildung sonstiger Natur – ländliche und periphere Gebiete wie Südtirol verlassen. Vinschgau ist natürlich nur ein Paradebeispiel. Die eigentliche Frage ist: Warum kommen sie nicht mehr zurück? Und vor allem: Was bewegt sie dazu zu bleiben? Wir, das Kernteam, bestehend aus Simon Mariacher, Marco Telfser und Sarah Trevisiol, dazu kamen des Weiteren Matteo Vegetti, Maurizio Efisio Pala und Nicolò Bosio, wollten verstehen, was die Beweggründe fürs Weggehen und ganz besonders fürs Dableiben sind und welche innovativen Projekte es in Südtirol schon gibt, die das Dableiben bzw. das Zurückkommen unterstützen. Die Motivation zu diesem Film war sicher auch eine persönliche: Viele von uns sind Rückkehrer*innen, haben Zeit im Ausland verbracht und wissen, was die Problematiken sind – diese haben sich durch die Erfahrungswerte unserer acht Protagonist*innen im Film auch bestärkt. Die Problematiken sind nach wie vor die niedrigen Löhne, die geringe Ausbildungsvielfalt, die hohen Lebenskosten, wenige innovative Arbeitschancen. Beklagt werden auch schwierige Karrieremöglichkeiten, das ungleiche Verhältnis Einnahmen–Kosten, umständliche Transportverbindungen und eine bestimmte Engstirnigkeit bzw. konservativere Mentalität.

Was war der Auslöser?

Gestartet ist das Projekt auch nach dem Lesen mehrerer Studien: Die Studie vom Amt für Arbeitsmarktbeobachtung von 2023 zeigt ganz klar, dass die Talentabwanderung von hochqualifizierten jungen Arbeitskräften – sowohl Akademiker*innen als auch Handwerker*innen –in den letzten Jahren dramatische Ausmaße angenommen hat, weil nur 15–20 % der im Ausland beruflich ausgebildeten Südtiroler*innen den Weg zurück in die Heimat finden. Das ist kein neues Thema, wir haben es aber sicher in den letzten Jahren unterschätzt. Wenn wir Zukunft gestalten wollen, damit sich immer wieder mehr Menschen wohl fühlen und Neues gestalten können, brauchen wir den Mut, Neues zu wagen, wobei Neues niemals das Alte ersetzt, sondern ergänzt. Es geht darum generationsübergreifend Lösungen zu finden, für beispielsweise den Wohnmarkt – im Ausland verdient man mehr und der Wohnungsmarkt ist zugänglicher, wie schafft man also in Südtirol neue Wohnmodelle, ohne sich, zum Beispiel, ein Leben lang zu verschulden? Das Institut für Wirtschaftsforschung der Handelskammer Bozen hat in einer Studie von 2018 aufgezeigt, wie besonders der Vinschgau von der Abwanderung betroffen ist, weil viele in die naheliegende lukrativere Schweiz starten – wobei die Abwanderung nicht eben nur für den Vinschgau gilt, dieses Tal steht als Beispiel für ein allgemeines Südtirol-Phänomen.Südtirol Vinschgau Gehen oder Bleiben Filmstill Daniel CostaWarum nicht ein anderes Tal?

Für uns war diese Landeshälfte spannend, weil dieses Tal als Paradebeispiel gelten kann, wo Leute kreativer werden, aus dem Nichts etwas gestalten. Im Vinschgau entstehen eben mehrere Pionierprojekte, die auch untereinander vernetzt sind und gemeinsam versuchen, auf Regionalentwicklung zu setzen. Projekte wie eine BASIS, eine Marmorschule in Laas, eine Tschengelsburg, eine Sozialgenossenschaft Vinterra, ein „Stilfs: Resilienz erzählen“ versuchen neue attraktive Pole zu werden, wo generations- und kulturübergreifend gemeinsam Zukunft gestaltet wird. Für uns war es spannend zu sehen, dass ein Gebiet wie der Vinschgau, der eher abgelegen ist und medial weniger präsent, eigentlich im Moment viele spannende Lösungen vorschlägt und diese mit leichter Abänderung an andere Südtiroler Kontexte angepasst werden könnten, um so hoffentlich immer mehr junge Menschen zu überzeugen, im jeweiligen Tal zu bleiben oder wieder zurückzukehren. Dafür ist auch das Projekt in Stilfs, das Daria Habicher im Film vorstellt, ein gutes Beispiel: Das kleine Bergdorf, das stark von Abwanderung betroffen ist, ist nun in den Genuss einer großen, 20 Millionen starken EU-Finanzierung gekommen. Es geht jetzt darum, partizipativ zu verstehen, in welcher Art Dorf wollen wir morgen leben? Wie können wir öffentliche Gelder gemeinsam gut investieren und den verschiedenen Bedürfnissen der dort lebenden Menschen entsprechen? Die Idee ist dabei, eine Von-oben-herab-Manier zu vermeiden und vielmehr auf die Eigeninitiative der Leute zu setzen.
Denn die Abwanderung von jungen Leuten ist ein großes Problem, nicht nur aus demographischer Sicht – es fallen auch Infrastrukturen weg, Mobilität wird schwieriger, weil weniger Busse eingesetzt werden, die Wirtschaft wird weniger angekurbelt … Für uns war es auch spannend zu verstehen, welche Kollektive, Vereine und Institutionen vor Ort wertschätzen und potenzieren das Wissen, das sich Südtiroler*innen im Ausland aneignen, und wie versuchen sie, es in ihre Aktivitäten einzubinden. Abgesehen davon brauchen wir unbedingt auch ein gewisses Maß an Diversität und Schwung, die es uns ermöglichen, uns als Gesellschaft auf sozialer Ebene weiterzuentwickeln. 

… der Zugang war für uns alle auch ein sehr persönlicher – auch für mich, die immer wieder selbst der Herausforderung gegenüberstand, zu verstehen, wie und wo kann ich all die im Ausland gemachten Erfahrungen in Südtirol konkret umsetzen?

Was hat dich überrascht?

Sarah Trevisiol: Positiv überrascht war ich über sehr viele Dinge. Ich habe einige Zeit am Projekt BASIS Vinschgau Venosta mitgewirkt und dort sehr spannende Projekte kennengelernt. Die Idee ist jetzt zu experimentieren, Flächen und Räumen zu öffnen, in denen sich Menschen begegnen können, um gemeinsam an der Zukunft zu schmieden. Ich glaube, im Vinschgau gibt es viele tolle Beispiele dafür, und unser Dokumentarfilm will darin Einblicke bieten. Das eigentliche Ziel für uns war es, einerseits das Phänomen mit persönlichen Erfahrungswerten der lokalen Bevölkerung zu belegen und andererseits Best-Practice-Beispiele vorzustellen, damit man auf gesamtgesellschaftlicher Ebene konkrete Lösungen und Projektvorhaben ausklügeln kann, die den Brain-Drain verringern. Mit unserer Event-Reihe „Südtirol: Gehen oder Bleiben“ gehen wir in verschiedene Südtiroler Täler. Denn wir beklagen uns nicht nur und dokumentieren nicht nur Beweggründe fürs Weggehen, sondern schlagen auch anhand der greifbaren Vinschger Projekte konkrete Lösungen vor. Wir erhoffen uns damit, dass andere Täler, andere Kollektive, andere Projekte aufeinander aufmerksam werden, sich miteinander vernetzen, voneinander lernen, ihr Wissen teilen, damit Pioniergeister nicht Alleinkämpfe austragen müssen, sondern von anderen Erfahrungswerten lernen können und im Kollektiv gemeinsam Lösungen für die Zukunft erarbeitet werden können. 

Welche Erwartungen habt ihr?

Sarah Trevisiol: Wir erhoffen uns, dass viele zu unseren Filmvorführungen kommen. Im Anschluss gibt es immer eine Diskussionsrunde – in Bozen sind es Magda Scherer (Vize-Vorsitzende der Südtiroler Hochschüler*innenschaft sh.asus), Marielle Scharfenberg (Hauptverantwortliche des Zwischen-/Nachnutzungsprojektes „A place to B(z)“, Master for Eco-Social Design), Bart van der Heide (Museion-Direktor, Kunsthistoriker, Ausstellungsmacher) Florian Pallua (Verantwortlicher AfZack, Koordinator der Fachstelle Jugend beim Forum Prävention). Wir möchten nämlich gemeinsam mit Personen, die sich vor Ort mit dem Thema auseinandersetzen, verstehen, was wird schon gemacht, was hat funktioniert, was ist ausbaubar? Im Herbst möchten wir die Veranstaltungsreihe fortsetzen und die Diskussion weiter ankurbeln – dafür können uns gern am Film und an der Diskussion Interessierte kontaktieren. Die Frage lautet immer wieder: Wem gehört der öffentliche Raum? Wer darf ihn bespielen? Wie können wir ihn öffnen, damit so viele Menschen wie möglich davon profitieren und unterschiedliche Inhalte Platz haben, und eben diese Vielfalt uns ermöglicht, flexibler, neugieriger und kompromissfähiger für neue Lösungen zu bleiben – die von der Ursprungsidee abweichen können, aber immer versuchen, das kollektive Gemeinwohl anzustreben.

Premiere des Dokumentarfilms „Vinschgau: Gehen oder bleiben?“ (45 Min., gedreht im Sommer/Herbst 2023 im Vinschgau) war am 24. April 2024 in der BASIS Vinschgau Venosta in Schlanders. Nun tourt der Dokumentarfilm durch Südtirol: Am Donnerstag, 13. Juni 2024 wird er mit Diskussion im Anschluss um 20:00 Uhr in Zusammenarbeit mit AfZack, Südtiroler Hochschüler*innenschaft und Südtiroler Kulturinstitut im Filmclub Bozen gezeigt. Am selben Tag, 13. Juni, wird der Dok um 19:00 Uhr auch im Filmclub im Stadttheater Sterzing gezeigt. Und am Samstag, 15. Juni um 19:00 Uhr im Eck Museum of Art in Bruneck. Am Montag, 17. Juni wird er auf RAI Südtirol (in deutscher Sprache) im Rahmen der Sendung „Nachgeschaut“ ausgestrahlt. 

Protagonist*innen: Stilfs: Resilienz erzählen – Daria Habicher, Kultur und Landschaft – Andrea Azzolini, Bürger:innen Genossenschaft Obervinschgau (BGO) – Elisabeth Prugger, Berufsfachschule für Steinbearbeitung Laas – Annalena Tappeiner, BASIS Vinschgau Venosta – Lukas Pircher, Kreativwerkstatt – Daniel Costa, Bunker 23 – Othmar Prenner, Vinterra – Albin Kappeller, Tschengelsburg – Karl Perfler.

Wer den Film zu sich ins Dorf oder Tal holen und eine Diskussion anstoßen möchte, kann eine Mail an gehenoderbleibensudtirol@gmail.com schreiben. Zudem ist der Film auch im Amt für Film und Medien der Provinz Bozen erhältlich.

Fotos: Filmstills aus „Vinschgau: Gehen oder bleiben?“

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