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August 28, 2023

Du bist immer ganz

Lena Pernthaler

Tausend kleine Spiegelstücke lagen vor etwa einem Jahr wie eine raumgroße Discokugel in der Dachgeschosswohnung in Wien. Ein paar Sekunden zuvor hatte sich der Spiegel irgendwie von der Wand gelöst und war klirrend in tausend Teile zerbrochen. Eigentlich bin ich nicht besonders abergläubisch – wenn man einmal eine schwarze Katze hatte, bringt einen nichts so leicht aus der Ruhe – doch der zerbrochene Spiegel tat es. „Sieben Jahre Pech“, war Googles Antwort auf die Scherben. Ich beschloss, sie erstmal aufzukehren. 

Ein paar Wochen später zerbrach, gefühlt, etwas in mir. Zwischen dem Spiegel und dem Leben gab es auf den ersten Blick keinen direkten Zusammenhang, außer dass sie beide vom Chaos erzählten. Auf den zweiten Blick spiegelte der Spiegel mein Inneres perfekt wider. Wie Innen, so Außen, oder wie geht der Spruch? Ich saß da und versuchte, mich Spiegelstück für Spiegelstück daran zu erinnern, wer ich war, was ich wollte und was noch übrig blieb, nachdem ein paar Stücke abhanden gekommen waren. 

Da ist Schönheit in den Scherben: Diese Weisheit kommt aus Japan und heißt Kintsugi. Dabei werden zerbrochene Porzellanstücke wieder zu einem Ganzen, indem man die Risse mit einem pulverisierten Goldlack zusammenklebt. Genau da, wo etwas gebrochen ist, kommt das Gold hin. Genau da, wo sich die Goldadern über das Geschirr ziehen, pulsiert jetzt die Kraft. 

Gibt es den Goldlack auch fürs Leben? Nein. Dafür aber eine Erkenntnis, die ich das letzte Jahr über gewonnen hab: Du bist immer ganz. Lass zerbrechen, was zerbrechen will. Schau den Zugvögeln beim Wegfliegen zu. Und den Spiegelstücken, die nicht mehr ins Mosaik des Lebens passen. Verlier dich. Setz dich in ein Flugzeug und verlier dich noch mehr. Und dann sammle dich Spiegelstück für Spiegelstück wieder ein. Find Teile von dir, in Städten, deren Namen du vor einem Jahr nicht kanntest, in Armen von Menschen, die nichts als deine Ganzheit sehen. Such dich nicht, sondern find dich, ganz plötzlich, ganz unerwartet und neu. 

Ein Jahr später, 1.349,85 km Luftlinie entfernt von der Dachgeschosswohnung, der Discokugel und den Scherben: Es ist wieder Sommer und ich bin mit einer Hand voll Sonnenblumen auf dem Weg zu einer Freundin. Ganz plötzlich und unerwartet glitzert mir etwas vom glühend schwarzen Asphalt entgegen. Ich lächle, als hätte ich Gold gefunden – dabei ist es nur ein kleines, unperfektes Spiegelstück. 

Bei drei Sachen bin ich mir jetzt ganz sicher: Die Zugvögel werden wiederkommen. Die Spiegelstücke auch. Und egal, was auch zerbricht, Scherben spiegeln dein Licht.

Foto: (c) Nora Pernthaler 

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