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July 16, 2019

Reise in die mentale Welt: Rachid Ouramdane

Florian Rabatscher

Dieses Jahr hat Tanz Bozen Rachid Ouramdane aus Frankreich als Gastkurator eingeladen. Der Co-Direktor des CCN2 – Centre chorégraphique national de Grenoble ist beim Festival aber auch als Choreograf und Interpret zu sehen. Seine Arbeiten spiegeln oft Fragen seiner eigenen Identität wider. Fragen, die auch zu Südtirols Bevölkerung passen und die er auch heuer beim Festival mit dem Konzept „My Inner Land“ wieder aufwirft. Am 19.07.2019 sehen wir seine Arbeit „Franchir la nuit“ im Stadttheater Bozen, welche bereits das Publikum auf der Biennale de la danse de Lyon 2018 begeistert hat. Die Choreografie für fünf Tänzer aus seiner Kompanie sowie Kinder und Jugendliche, die jeweils vor Ort ausgewählt werden, erzählt mit Feingefühl von Migration und Exil. Zentrales Element auf der Bühne ist das Wasser, als Anspielung an die Flucht über das Meer. Was genau uns dort noch erwartet, was es mit „My Inner Land“ auf sich hat und einiges mehr, erzählt uns Rachid Ouramdane im Interview …

Du warst in den letzten Jahren öfters hier. Wie hast du diese Region in Erinnerung?

Alles startete mit dem Festival und seiner DNA. Bei meinem ersten Besuch präsentierete ich meine Arbeit und, da ich vorher nie hier gewesen war, wusste ich auch nicht viel über dieses Land. Emanuele Masi, der künstlerische Leiter des Festivals, zeigte mir viel von der Stadt, samt der seiner Problematik: Die zweisprachige Kultur und das Erbe der deutschen sowie der italienischen Bevölkerung. Die Frage ist ja immer, wie wir mit unseren Unterschieden umgehen. Die Frage der Identifizierung war schon immer ein Teil meiner Arbeiten und passt auch zu dieser Region. Als ich hier war, lernte ich auch einige ZuschauerInnen kennen und diskutierte mit ihnen. Da ich den politischen Hintergrund dieses Landes nun kenne, war es sehr schön zu sehen, wie neugierig und offen die Einheimischen hier gegenüber dem Thema Kulturvielfalt sind. Ich finde, um dort weiterzukommen, dürfen wir uns nicht nur auf Meinungen aus den Nachrichten oder irgendwelche Dokumentationen versteifen, sondern müssen gegenseitig unsere Erfahrungen austauschen. 

Was ist deiner Meinung nach denn die DNA des Festivals Tanz Bozen?

Sagen wir es so: Tanz Bozen ist zu einem internationalen Festival geworden, obwohl das Wort „international“ für viele Leute seinen eigentlichen Sinn verloren hat. Für manche bedeutet es einfach, dass verschiedene Nationen sich irgendwo präsentieren – das sagt bereits viel aus. Wenn wir manchmal „international“ sagen, ist es fast schon schick und genau deswegen hat es wiederum eine tiefere Bedeutung: die Neugier auf das, was jenseits der Grenzen passiert. Wenn das Wort „international“ manchmal auch zu Werbezwecken dient, bedeutet es in gewissen Ländern viel mehr: Beispielsweise in Brasilien ist es eher die Neugier oder die Offenheit, die mit diesem Wort gemeint ist. Was also ist die DNA dieses Festivals? Ich denke, der Wunsch, offen für die Außenwelt zu sein. Durch das Festival ist auch die kleine Stadt Bozen vernetzt mit dieser Außenwelt, was sehr wichtig ist. 

Aha, Außenwelt … Warum nennt sich das Konzept dann „My Inner Land“?

Eigentlich kam das ganz von selbst. Wenn ich von „My Inner Land“ spreche, meine ich nicht mein eigenes Innenleben. Es geht mehr um Menschen, die ihren Platz in dieser Welt suchen. Eine Welt, die manchmal abstrakt und konfliktgeladen ist. Es ist eine mentale Welt, die uns die KünstlerInnen während des Festivals zeigen und in der sie versuchen, zu sein. Denn Herkunft, Aussehen usw. sagen eigentlich nichts über die Person selbst aus. Es ist nur ein Teil der Identifikation, aber nicht Teil der Identität. Genau mit diesem Problem setzen sich die KünstlerInnen beim Festival auseinander. 

Wie zeigt sich eine so starke Botschaft in einer Choreographie?

Natürlich ist das ohne Worte schwierig, aber es entwickelt sich und ist nach einer Weile erkennbar. Und die Botschaft ist ökologisch. Es geht nicht um irgendwelche Nationen, es geht mehr darum, ob wir immer noch fähig sind in so einer Umwelt zu existieren. Beispielsweise wenn wir Eisberge schmelzen sehen, dann denken wir sicher sogleich über die Zerbrechlichkeit der Welt nach. Wir können uns fragen: Was ist unser Platz als Mensch und nicht als irgendein Staatsbürger in dieser Welt? Du wirst sehen, allein beim Zusehen entdeckst du immer mehr, wie verschieden wir Menschen eigentlich sind, und erlebst zugleich kulturelle Vielfalt.

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„Franchir la nuit“ ist genauso ein Stück, nicht wahr?

Diese Arbeit passt perfekt ins Programm und zum Thema kulturelle Unterschiede. Wieder stellt sich die Frage: Was unterscheidet uns voneinander? Diese Arbeit startete in Frankreich und in jeder Stadt, in der ich war, wollte ich Migranten-Kinder kennenlernen. Es ist doch zumeist so, dass Medien, Anthropologen oder Soziologen für sie sprechen und wir bilden uns dann eine Meinung. Doch wer kennt diese Kinder wirklich? Deshalb dachte ich mir, ob sie sich nicht einmal selbst vorstellen und etwas von sich zeigen möchten, und so kamen sie auf die Bühne. So wie wir sie auf der Bühne sehen, sehen wir sie vielleicht sonst nie. Sehr auffällig war, wie erwachsen diese Kinder sind. Es ist wirklich eigenartig, Kinder zu sehen die wie Erwachsene handeln. Und genau das ist der Punkt: keine Dokumentation, keine Worte; wir wollen ein anderes Bild aufzeigen. Dazu dient auch die Bühne mit dem Wasser, das uns hier (besonders in Italien) sofort ans Mittelmeer und die Flüchtlingsproblematik denken lässt. Aus ethischen Gründen wollen wir nicht, dass die Kinder von ihren traumatischen Erlebnissen oder etwas anderem selbst erzählen. Der einzige Text, den man hört, ist der Liedtext der Musik, die wir auswählten.

Welche Musik habt ihr ausgewählt?

Zum Beispiel zwei bekannte Interpreten, nämlich David Bowie und Bob Dylan: zum einen „Heroes“ von David Bowie, dort heißt es in einer Passage: „I wish you could swim, like the dolphins, like dolphins can swim.“ Tatsächlich wirkt das, als ob die Kinder diese Sätze träumen würden. Von Bob Dylan suchten wir uns „Knocking On Heavens Door“ aus, da auch die Aussagen in den Lyrics einfach passend sind. Ich lernte nämlich Jugendliche kennen, die selbst Kindersoldaten waren; Sätze wie: „Mama, put my guns in the ground, i can’t shoot them anymore“, treffen es. 

Welche Rolle spielen die ausgewählten Aufführungsorte für die Outdoor-Veranstaltungen, die du kuratierst?

Die Auswahl fand in Zusammenarbeit mit Emanuele Masi statt. Es ging nicht darum, wie der Ort aussieht, sondern wo er liegt. Es  sind auch Orte dabei, die Emanuele vorgeschlagen hat und die ich gar nicht kannte. Wir dachten, es wäre schön, auch unbekannteren Plätzen wieder Leben einzuhauchen. So wollen wir auch die Leute in Bozen dazu einladen, unbekanntere Teile ihrer Stadt wieder zu entdecken. 

Was können sich die ZuschauerInnen vom Festival mitnehmen?

Ich hoffe, wenn jemand etwas vom Festival sieht, dass er nach dem Verlassen noch neugieriger ist und noch mehr wissen will. Denn ich denke, Kunst bringt keine Antworten, sondern Fragen. Natürlich gibt es viele KünstlerInnen, die gerne provozieren oder schocken, ich aber nicht. Oft ist es ja sinnvoll und macht auf gewisse Umstände aufmerksam. Aber meistens wird es nur dazu genutzt, auf sich selbst aufmerksam zu machen. An so etwas bin ich nicht interessiert, es schafft eher Distanz, finde ich. Man sollte sich doch auch gewisse Grenzen setzen, um einen Dialog herzustellen und die Neugier zu wecken. Wenn man im Libanon zwei nackte Frauen auf die Bühne stellt ist das natürlich ein Riesenskandal und perfekt für die Kommunikation, aber für den Kontext bringt es rein gar nichts. Ein Outdoor-Festival bedeutet für mich, auf das Publikum zuzugehen und den Dialog zu suchen. Raus vom Theater. Raus aus dem Museum. Raus aus dem Kino. Und damit die Leute draußen bleiben, müssen wir zu ihnen gehen.

Fotos: (1) Géraldine Aresteanu, (2) Patrick Imbert

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