Jean Ziegler und Paul Rösch in Meran © Stadtbibliothek Meran
An einem heißen Julitag hielt ich den Flyer der Reihe „Appuntamento a Merano/Autoren in Meran“ in meinen Händen. Die Sonne brannte, die Mücken surrten und ich freute mich. Jean Ziegler, der umstrittene Schweizer Soziologieprofessor, bekanntester Globalisierungskritiker Europas oder der Welt, lautstarker Kämpfer für die Verdammten dieser Erde, der Stachel im Fleisch von Schweizer Großbanken und multinationalen Unternehmen – sprich: eine lebende Legende – würde nach Südtirol kommen. Oh, wie schön wäre ein Interview! Ich würde mit einem Mann sprechen, der einst Che Guevara durch Genf kutschierte und mit Sartre im Cafè de Flore über Algerien diskutierte. Der seinen Namen (Jean Z. hieß eigentlich früher Hans Z.) Simone de Beauvoir verdankte. All die gedruckten Wörter aus Studententagen würden lebendig werden.
„Demokratie kennt keine Ohnmacht“
Die Chefredakteurin organisierte einen Interviewtermin. Sie würde fotografieren, ich kluge Fragen stellen, vielleicht Marx zitieren, aus einem wenig bekannten, frühen Werk. Wir würden im opulenten Park des Hotel Laurin im Schatten alter Kiefern sitzen und über sein aktuelles Buch „Ändere die Welt!“ sprechen. Gleichzeitig „intellektuelle Biografie“ und „Kampfschrift“, beschreibt er darin folgende These: Der Neoliberalismus sei eine obskure Ideologie, die sich als „Naturgesetz“ tarne und so westliche Bürger zu ohnmächtigen Zombies mache. Doch Demokratie, so Ziegler im Buch, kenne keine Ohnmacht. Die BürgerInnen in den europäischen Staaten könnten den Hunger in der Welt beenden, indem sie die Regierungen mit demokratischen Mitteln dazu zwingen, Maßnahmen dagegen zu ergreifen – etwa das Verbot von Spekulationen auf Agrarrohstoffe. „Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten ist heute der objektive Mangel an materiellen Gütern, die zum elementaren Überleben der Menschen nötig sind, überwunden,“ schreibt er. Wenn heute alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, dann „wird dieses Kind ermordet“ und zum Opfer einer „kannibalischen Weltordnung“.
Eine Rolex im Dschungelkampf
Ich schüttle Jean Ziegler die Hand und er sieht nicht böse aus, höchstens einen klitzekleinen Moment lang. Er hat einen herzlichen Händedruck und blitzend kluge braunblaue Augen. Leider sei er in zehn Minuten mit Herrn Bergmeister, dem Präsidenten der Stiftung Sparkasse und Moderator des um 18.00 H folgenden Vortrags im Waltherhaus, verabredet. Er könne nun kein Interview mehr geben. Wir sprechen über den Abend zuvor im Meraner Kurhaus. „Die Stadt ist wunderschön,“ sagt er. Überhaupt Südtirol. „Ein bisschen wie die Schweiz, oder?“ sage ich. „Korrupt“ sagt er lächelnd. „Aber euer Bürgermeister ist ein guter Mann.“ „Und wer ist eigentlich Herr Bergmeister, erzählt…“ Zum Abschied gibt er uns seine Karte. Ich denke an die Rolex von Che Guevara. Er wird seine Gründe gehabt haben.
Ziegler, Jean: “Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen” Penguin Verlag, 2016