Anna Karenina – Karenina neu

Das Gefährliche an dem großartigen Stoff ist, dass er in der simplen Liebesgeschichte stecken bleiben könnte: Die Ehefrau eines seriösen Mannes verlässt ihn wegen eines anderen und zerbricht daran. Tolstoi hat aber mit seinen 1.200 Buchseiten mehr gemeint als das, z. B. die gesellschaftlichen Verhältnisse im Russland des 19. Jahrhunderts, die verlogene Moral, aber auch ein paar grundsätzliche Fragen zu Natur und Gesellschaft, die er in verschiedenen Figuren zu Leben erweckt. Tolstoi war ein großartiger Schriftsteller, aber auch ein eher fragwürdiger Ehemann (nachzulesen in der spannenden Biografie zu Sofja Andrejewna Tolstaja von Keller/Sharandak). Joe Wright jedenfalls erzählt die Geschichte von der untreuen Ehefrau, dem betrogenen Mann, der Gesellschaft in St. Petersburg und jene des Naturphilosophen Ljewin in einer ansprechenden, etwas entrückten, überkandidelten Form, die ihren ganz eigenen Reiz entfaltet. Nur Keira Knightley staunt zu oft und zu lange mit halb offenem Mund über die Dinge des Lebens. Wright setzt auf Künstlichkeit, verlegt die Handlung auf eine Theaterbühne und erinnert so daran, dass das Leben Welttheater ist. Er lässt die Protagonisten immer wieder auf den Schnürboden steigen, verlegt ein Pferderennen samt Sturz sehr gekonnt ins Parkett. Nur die Szenen rund um Naturliebhaber Ljewin spielen wirklich in der Natur, und diese erobert in der Schlusseinstellung mit einer blühenden Wiese Bühne und Parkett. Auch ein Statement. Theatermann Wright inszeniert das Drehbuch von Tom Stoppard atemlos, fließend, ohne 3D-Schnickschnack; er spielt gekonnt mit der Künstlichkeit, vermischt Realität und Fiktion, macht aus einer Modelleisenbahn einen wirklichen Zug, schickt die Figuren in pantomimische Ballettszenen, legt einen Dauersoundtrack unter das Ganze und schrammt haarscharf aber gekonnt am Kitsch vorbei. Die Karenina des misogynen Tolstoi kann sich sehen lassen, und möglicherweise ist sogar die nervige Knightley Absicht.
Anna Karenina, (GB/FR 2012), 130 Min., Regie: Joe Wright, mit: Keira Knightley, Jude Law, Aaron Johnson. Bewertung: Sehenswert.
Erschienen in der Südtiroler Tageszeitung vom 2./3.3.2013.