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October 19, 2010

all&tägliches: Im Zeichen des Apfels

Sarah Sailer

Im Herbst eröffnet sich im Vinschgau jedes Jahr aufs Neue eine besondere Zeit:

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die Apfelernte. Diese Zeit ist eine ganz Besondere; sie ist nicht vergleichbar mit anderen Obsternten im Tal – die laufen relativ unscheinbarer ab – die Apfelernte hingegen beansprucht Zeit, Menschen und Straßen und versetzt einen Großteil des Tales in einen Ausnahmezustand. Im Gegenzug liefert sie Geld, Jobs für StudentInnen und jede Menge Unterhaltungsstoff.

Ich befinde mich in dieser außergewöhnlichen Zeit wieder einmal in meinem Heimatdorf. Und das nicht ohne Vergnügen. Es gibt während der Apfelernte für eine Ethnologin viel Spannendes zu beobachten, zu erörtern und analysieren. Es entsteht eine Subkultur, die einen eigenen Rhythmus besitzt, eigene Gäste anlockt und kulturelle Eigenheiten in sich birgt.

Der eigene Rhythmus besteht darin, dass auf den Straßen im Großteils des Tales, von Tartsch bis in den unteren Vinschgau direkt übergehend ins Burggrafenamt, in dieser Zeit langsamer gefahren werden muss. Traktoren, mit vollen und leeren Kisten, nehmen die Landstraße in Besitz. Aber auch der Arbeitsrhythmus wechselt. Ein sehr hoher Anteil –genaue Zahlen wären hier nur reine Spekulation – an DorfbewohnerInnen, ist direkt und indirekt in die Ernte eingespannt. An erster Stelle natürlich die Bauern, die sozusagen am Höhepunkt ihres Arbeitsjahres angelangt sind, aber auch ihre Frauen und Kinder, die fürs Kochen, für die Versorgung der Klauber, fürs Kisten ausfahren oder aber direkt in die Ernte, also ins Epfl klaubmeinbezogen sind. Wer nicht zu einer Apfelbauernfamilie gehört, kennt eine, und wer Geld verdienen will, macht sich also an ein Mitglied der Familie und bemüht sich um einen Klauberjob. Wer weniger im Dorf verankert ist und nicht direkt mit den Bauern zu tun hat, kommt bestimmt über Freunde oder Bekannte zu einem Bauern. So sind also in jener Zeit, viele Jugendliche – vorzugsweise Studierende – die sonst in der Welt verstreut leben, zu Hause, um die eigenen Geldressourcen aufzupeppen. Diesen und den letzen Herbst befinde auch ich mich darunter. Und am Morgen, in Erwartung der Mitfahrgelegenheit (mit dem Bauer in seinem Auto), sehe ich zahlreiche meiner AltersgenossInnen in Klauberkleidung in die Wiese fahren. Das Klauben verbindet, hebt Unterschiede auf und alle sind demselben Rhythmus erlegen oder positiv ausgedrückt: Jede und jeder passt sich ihm (gerne) an.

Die Gäste, die die Apfelernte anlockt, sind die Klauber (Pflücker). Zumeist kommen sie aus den Oststaaten. In letzter Zeit sind es vermehrt Staatsbürger aus Mazedonien, da diese – aus einem Nicht-EU-Staat kommend – eine geringere Bezahlung fordern (können). Die Klauber nehmen sich in ihren Heimatorten oft Urlaub, um für die Apfelernte zu uns zu kommen. Meist kommen sie dann zu viert oder fünft in einem Auto zu einem Bauern. Aber auch ansässige MigrantInnen, die minder bezahlte Jobs machen, sehen das Klaubmoft als gute Gelegenheit, die Geldressourcen etwas aufzustocken. Zu guter Letzt wären da noch die geldbedürftigen StudentInnen. Wenn sie Glück haben, kommen auch sie noch irgendwo unter. Denn, so sagt man sich, haben die meisten Bauern lieber andere Klauber, die „billiger“ sind. Glücklicherweise bewährt sich diese Dorfweisheit jedoch nicht immer, denn nicht alle sind so. Also hatte auch ich Glück und bin untergekommen. Und ich freue mich. Weniger auf die monotone Arbeit und die Schulterschmerzen am Abend, jedoch auf die Gespräche, auf die Kommunikationsversuche, auf spannende Situationen, die sich im Feld ergeben. In der Wiese wird alles beredet, die Zeit ist lang, die Apfelreihen eng, den Klaubern wird (die verbale und wenn es sonst nicht geht die nonverbale) Kommunikation sozusagen nahegelegt.

Nun zu den kulturellen Eigenheiten der Klauberzeit. Wie oben bereits erwähnt, kommt ein Großteil der Klauber aus den Oststaaten. Diese schlafen und essen hier und leben ihre Gewohnheiten soweit wie möglich aus. Zum Schlafen sei nur kurz erwähnt, dass jeder Bauer einen eigenen Raum, oft sogar eine eigene Hütte besitzt, in der sich minimalistisch eingerichtete Schlaf- und Hygieneplätze befinden. So weit so gut. Was Essen und Trinken anbelangt, gibt es da schon mehr zu erzählen. (Das gäbe es ohne Zweifel auch in den Schlafräumen, aber da ist mir der Einblick bis jetzt nicht eingeräumt geworden.) Damit keine Versorgungsnot bei den Bauern entsteht, bieten verschiedene Verkaufsstellen besondere „Klauberangebote“. Wurst und Käse wird kiloweise zu einem vergünstigten Preis erworben, mit denen dann Brote für den Halbmittag um 10 Uhr (bei den meisten Bauern ist dieser Zeitpunkt identisch) zubereitet werden. Es gilt das Gleichheitsprinzip: Jede und jeder bekommt dieselbe Jause. Ebenso wird eine Menge an Getränkekisten zu einem vergünstigten Preis erworben. Hauptsächlich wird in der Wiese Mineralwasser, Aranciata und Limonade aufgeschenkt. Zu Verpflegung in der Mittagspause bieten einige Restaurants einen Sonderpreis für Klaubermenüs an. Immer weniger wird im Haus oder am Hof des Bauern gekocht, nicht jede Bäuerin erfreut sich mehr daran, die Klauber zu bekochen. Zumal auch die hiesige Kost, voci che girano, dem Gaumen der Klauber nicht sehr bekommt. Findet die Versorgung im Bauernhaus statt, wird bei der zünftigen Kost – oft aus einer Schüssel – eine Parität hergestellt, abseits von Nation und Lohn. Beide Seiten wissen von der sonstigen Ungleichheit und so tut man gut – wenigstens beim Essen – das Gleichheitsprinzip auszukosten. Bei so manchem Bauern bekommt man abends ein Feierabendbier. Zur Freude der durstigen, Alkohol liebenden Klauber aus dem Ostblock, vernimmt man im Dorf. In der Klauberzeit würden in den Supermärkten die Regale mit Alkohol geleert. Insbesondere auch die sonst spärlich verkauften hochprozentigen Getränke würden gerne erworben werden. Soviel zu den Dorfgeschichten, die dadurch in der Klauberzeit über ein zusätzliches und hauptsächliches Thema verfügen, das Abwechslung und frischen Wind in die Gesprächsrunden in den Supermärkten, den Wirts- und Familienhäusern bringt.

Das Dorf wird in der Klauberzeit also aus seinem üblichen Alltag gerissen, die Dorfgemeinschaft wächst um ein Vielfaches, man vernimmt vermehrt verschiedene Sprachen, Supermärkte kalkulieren in anderen Maßen, Äpfel, Bauern und Klauber gehören zu den gebräuchlichsten Wörter in allen Gesprächen. Die Teilnehmenden und die Außenstehenden diskutieren über die Vorläufe und Geschehnisse auf Straßen, Wiesen und in den Häusern. Es gibt Freunde und Feinde der Klauberzeit, Gönner und Neider, aber niemand entkommt ihr. Die Klauberzeit mit ihren Menschen und Abläufen bildet eine eigenständige Subkultur. Und auch wenn sie nur einen Monat anhält, bewegt und beeinflusst sie wie keine das Dorf und seine MitbewohnerInnen und vielleicht auch jene, die es nach einem Monat wieder verlassen.

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