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November 3, 2016
„Es darf mich auch gerne angreifen“: Regisseurin Stefanie Nagler übers Theatermachen + ThEATROstwest
Kunigunde Weissenegger
Ordnen wir das Chaos neu, verwirren wir Machtzentren: Krieg in Europa. Die EU ist zusammengebrochen. Nachbarn sind zu Feinden geworden. Angst, Hunger und Kälte zwingen die Europäer ihre Heimat zu verlassen. Überall Menschen auf der Flucht. Alle wollen in die arabische Welt. Dort herrscht Frieden… – so steht es in der Einladung zur Premiere der ersten Aufführung des ThEATROstwest „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ der dänischen Schriftstellerin Janne Teller – am 3.11.2016 um 20 H im Meraner Ost West Club, weitere Aufführungen am 4.11. um 20.30 H im Kapuzinerkeller in Klausen sowie am 11.11. um 20 H im JuZe in Naturns.
„Neu, unverbraucht und jung“ soll es sein, schreibt der Ost West Club auf der Website. Neben Literaturclub, Repair Cafe, diversen Diskussionsrunden wie dem Ost West Zigori Club und Lampada Verde, WildWildOstWestSlam, Spiel-, Tanz-, Vortrags-, Sprach- und Filmabenden, Ausstellungen und natürlich unzähligen Konzerten, DJ- und Jam-Sessions hat der umtriebige Meraner Kulturtreffpunkt nun also auch eine Theatergruppe.
Stefanie Nagler ist das Hirn des Theaterprojektes. Mit der Meraner Regisseurin haben wir über Reiz und Herausforderung, Stückwahl und Regiearbeit, Möglichkeiten und Erwartungen gesprochen.
Was reizt dich daran, ein Projekt wie ThEATROstwest aufzubauen?
Eine neue Theatergruppe zu gründen, hat immer seinen Reiz, da unterschiedliche Menschen und Ideen wieder neu zusammentreffen. Der größte Reiz ist die Herausforderung, die eine Neugründung mit sich bringt. Von der Konzipierung bis zur Planung steckt viel Arbeit dahinter, die aber einen großen Raum für neue Möglichkeiten, Impulse und Ideen schafft. Ziel war es, in einem Raum wie dem Ost West Club eine Spielwiese zu bieten, wo es möglich ist, neue Formen und Konzepte umzusetzen. Der Ost West Club gibt mir die Chance ein neues und anderes Theater in Meran aufzubauen, das würde jeden Theatermacher reizen und ich bin überzeugt, dass Meran ein großes Potenzial und Gespür für Theater hat. Es zeigt sich auf jeder Probe und bei jeder Vorstellung, die wir bei „Theater im Club“ präsentieren, wie groß das Verlangen nach vielfältigem Theater ist.
Wer ist nun alles dabei und warum, glaubst du?
Die Gruppe ist bunt gemischt. Ich glaube, auf unseren Aufruf haben so viele reagiert, da wir keine Vorgaben hatten, wie Altersbeschränkung, Sprachgruppe, Herkunft. Es wurde auch keine Richtung vorgegeben oder mit einem konkreten Konzept geworben. Das kann natürlich auch schief gehen, doch in diesem Fall wurde genau nach so einem Projekt gesucht. Wir haben auch nicht nur Spieler angesprochen, sondern Menschen für alle Bereiche des Theaters, wie Dramaturgie, Bühne, Requisite, Maske. So findet bei uns jeder seinen Platz und kann sich in Allem ausprobieren. Diese Vielfalt in unserer Gruppe haben wir natürlich auch dem Ost West Club zu verdanken, der für die Idealisierung eines solchen Projektes den optimalen Hintergrund schafft. Der Club ist offen für alle und genauso halten wir es bei unserer Theatergruppe: Jede oder jeder ist herzlich eingeladen mitzumachen!
Euer erstes Stück ist “Krieg. Stell dir vor, er wäre hier” von Janne Teller. Habt ihr euch das was vorgenommen? Warum habt ihr dieses gewählt?
Der Ost West Club hatte bei der Gründung der Gruppe als Jahresschwerpunkt das Thema Flucht. Mit unserer ersten Produktion wollten wir zu diesem Schwerpunkt was beitragen. Das besonderer an diesem Stück ist, dass wir den Spieß umdrehen und die EuropäerInnen flüchten in den Nahen Osten. Wir haben uns also ein großes Ziel gesetzt. Das Buch von Janne Teller wurde bereits dramatisiert, aber in Essayform. So musste unsere Dramaturgiegruppe zunächst aus dieser Vorlage Rollen herausarbeiten. Allein diese Arbeit forderte uns. Auch die SpielerInnen wurden dadurch nicht mit einem klassischen Drama und Dialogen konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht aus dieser Perspektive, dass wir flüchten, war nicht leicht und verlangte einiges ab. Mein Inszenierungsstil ist auch nicht naturalistisch und, wenn jemand zum ersten Mal auf den Bühnenbrettern steht, kann er mit diesem Stück schon mal an seine Grenzen kommen. Doch genau darum geht es in diesem Stück und bei dem Projekt ThEATROstwest, Grenzen zu überwinden, sich zu fordern und weiterzukommen.
Wohin würdest du gehen, wenn bei uns Krieg wäre?
Ehrlich gesagt, stellte ich mir diese Frage in den letzten Monaten sehr häufig. Mein erstes Ziel wäre Neuseeland gewesen. Doch dann begann ich mich mit Reiserouten und Transportmöglichkeiten auseinanderzusetzen und das Meer war irgendwann keine Option mehr. Ich weiß nicht, wohin ich flüchten würde. Ich weiß auch nicht, ob ich flüchten würde. Ich weiß nach dieser intensiven Arbeit nur, dass ich gerne hier bin und zufrieden bin.
Du führst zumeist bei Theaterproduktionen Regie. Was reizt dich daran? Worin unterscheidet es sich zum Film, beispielsweise…?
Im Theater habe ich natürlich keine Kameraeinstellungen, keinen Schnitt und keine Filter, um eine Atmosphäre zu erzählen. Außerdem ist Theater flüchtig und passiert im Moment. Hat es mich berührt, dann bleibt es in meiner Erinnerung. Das reizt mich an der Regiearbeit. Ich muss Bilder schaffen, die die Handlung transportieren und die so stark sind, dass sie sich einprägen. Es ist eine Art Geometrie, die wir auf der Bühne sehen. Die unterschiedlichsten Formen von Figurenkonstellationen erzählen die Handlung und die Biografien der Figuren. Diese Konstruktion eines Stücks zusammen mit der Textanalyse ist immer meine erste Arbeit und die größte Herausforderung. Dann kommt noch Bühne, Licht, Kostüm dazu, dann die SchauspielerInnen und irgendwann fügt sich alles zusammen und man wird mit dem Gefühl belohnt, dass es funktioniert. Ein schöner Moment. Dieser Prozess bis zur Premiere kann lange dauern und sehr mühsam sein. Trotzdem könnte ich nie darauf verzichten.
Was erwartest du dir denn von eurer Initiative? Was könnte Theater bei den SchauspielerInnen bewirken, was beim Publikum…?
Ich erwarte mir, dass diese Theatergruppe noch lange besteht und dass wir immer wieder neue Mitglieder finden, neue Ideen entwickeln und aus diesem kleinen Projekt etwas ganz Großes wird. Die Gruppe hat in diesen paar Monaten einen großen Sprung gemacht und darauf kann jeder einzelne von ihnen stolz sein. Ich glaube auch, dass wir von unserer Bühnenarbeit sehr viel in den Alltag mitnehmen und lernen, uns und unser Umfeld intensiv wahrzunehmen. Wenn wir es mit diesem Stück schaffen, dass einige vom Publikum nach Hause gehen und sich selbst die Frage stellen, wo würde ich hingehen, wenn bei uns Krieg wäre, haben wir alles erreicht. Denn genau das soll Theater beim Publikum bewirken – dass wir uns Fragen stellen und nicht auf Antworten warten.
Und was macht für dich aktuelles Theater aus?
In einer Zeit, wo wir mit Bildern überflutet und emotional abgestumpft werden, kommt uns das Theater wieder näher und wird aktueller denn je. Es berührt uns mehr, da es die Möglichkeit hat, reduziert die Realität auf den Punkt zu bringen. Im Theater ist alles erlaubt und kann alles behauptet werden. Für mich ist Theater gut und aktuell, wenn es mich als ZuschauerIn fordert, mir neue Perspektiven zeigt, und es darf mich auch gerne angreifen.
Fotos: Stefanie Nagler
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