Tumler-Literaturpreis-Finalist Michael Fehr debütiert mit „Kurz vor der Erlösung“
Zum vierten Mal wird am 19. September 2013 in Laas der Franz-Tumler-Literaturpreis vergeben. Nominiert sind fünf deutschsprachige Erstlingsromane von Newcomer-Autorinnen und -Autoren. Einer davon ist der Schweizer Michael Fehr mit „Kurz vor der Erlösung“. – Eine „Partitur“ zum Nachsprechen und stimmlich Selbst-interpretieren

Dieses Buch muss man laut lesen. Laut, um es zu spüren, den Rhythmus, ihm zu folgen und in den Flow einer jeden der siebzehn Geschichten einzusteigen. Jede Geschichte steht im Grunde für sich alleine. Jede Geschichte bildet ein Kapitel in Form eines Satzes. Jeder Satz präsentiert sich in Versform ohne jegliche Interpunktion. Die Verse sind mal länger mal kürzer. Inhaltlich kann der Leser erahnen, dass alle Geschichten Momentaufnahmen an verschiedenen Örtlichkeiten, aber zu in etwa derselben Zeit, vor dem Heiligen Abend, spielen. Und egal in welch heiklen Situationen sich die Protagonisten einer jeden Geschichte befinden; ob es der scheinbare Fischer ist, der eigentlich ein Säufer ist, und am Flussbett in der Kälte hockend einen über den Durst trinkt, um die Kälte nicht so zu spüren, oder die städtische Blechmusik, die sich unter dem Schneesturm am Platz vor der Kathedrale bemüht mit ihrer Musik zumindest ein wenig wohlgemute Stimmung aufkommen zu lassen; läuten die Glocken jedes Mal am Ende einer jeden Erzählung den Moment ein, an dem sich alle auf Harmonie und Eintracht besinnen, und ein Halleluja oder Alleluja anstimmen.
Erschienen ist „Kurz vor der Erlösung“ von Michael Fehr mit 2013 im Luzerner Verlag „Der gesunde Menschenversand“ in der „edition spoken script“.
Mein Gedanke zu diesem Buch: Dieses Werk hat mich daran erinnert, dass Sprache in erster Linie zum Sprechen erschaffen wurde, dass Geschichten erzählt und gehört werden sollten; und die Schrift, das Lesen und Schreiben im stillen Kämmerlein, erst ein darauffolgender Schritt im Umgang mit Sprache ist.
Um dieses Buch, dass irgendwie einer Sammlung von Gedichten ähnelt, besser zu begreifen und mehr über seinen Schöpfer und dessen Weltanschauung zu erfahren, habe ich ihm einige Fragen gestellt. Geantwortet hat er nicht, wie es im Folgenden erscheinen könnte, direkt auf jeden Fragenblock, sondern mit einer ausführlichen Abhandlung, zu der ihn meine Fragen bewogen haben. Deswegen sind seine Antworten nicht zu eng im Zusammenhang mit den Fragen zu sehen, da es wohlgemerkt nur Ausschnitte aus seiner mir zugesandten Abhandlung sind. Die Freude, in Anbetracht seiner gegebenen Antworten, liegt meiner Auffassung nach, im weiten Interpretationshorizont, der sich uns Lesern eröffnen kann.
Zu den Fragen:
Gibt es eine sogenannte „Berner Spoken-Word-Szene“? Gehören Sie dieser Szene an? Wer und was organisiert die Szene – Veranstaltungen, Lesungen etc.? Wo sollte ein Südtiroler, der nach Bern kommt, hingehen, um etwas von dieser Szene mitzubekommen (Locations, Theater für Kleinkunst)?
Michael Fehr: Klar gibt es eine Schweizer Spokenwordszene. Viel Mundart spielt eine Rolle. Die Berner sind sehr aktiv. Ein Südtiroler Mensch, der sich dafür interessiert, ruft mich am besten an. Die Musik spielt fast jeden Tag an einem anderen Ort, beispielsweise in meinem Wohnzimmer.
Diktieren Sie ihre Texte jemandem oder schreiben Sie sie selber auf? Wie arbeiten Sie? Beziehungsweise wie entstehen Texte wie „Kurz vor der Erlösung“? Wovon lassen sie sich inspirieren? Wo sammeln Sie Inspiration? Was beobachten Sie gerne?
Ich diktiere
wenn ich perzipiere und zugleich observiere
wenngleich eventuell bloss partiell
habe ich evident Kapazität pro Observation und ergo nicht zent Prozent Konzentration und bin ergo ein partieller Observator und relativ zu einem perfekten ein bloß nicht perfekter und ergo defekter Perzepator
Bevorzugen Sie es ihre Geschichten selber vorzutragen oder wünschen Sie, dass dies z. B. Schauspieler für Sie übernehmen? Ist das Herausgeben eines Buches ein lästiges Muss – in Anbetracht dessen, dass Mündliche Kulturen auf längere Sicht ihrem Untergang geweiht sind, wenn sie nicht niedergeschrieben und archiviert werden? Welche Bedeutung hat für Sie das „Gesprochene Wort“ oder „Gesprochene Sprache“? Das Buch ist in der spoken script Edition erschienen – da liegt es nahe, das Ihnen auditiv-vokale Kommunikation also Sprechen, Stimme, Hören und Gehör am Herzen liegen!?
Finde ich eine, eine Sprache, spreche ich in mein Tonaufnahmegerät. Ein Absetzen ist nur möglich als Start-Stop-Click oder -Clap der Aufnahme, in der Transkription repräsentiert durch Zeilenumbruch. Wozu überhaupt die Transkription? Das akustische Werk bekommt dadurch gewissen Partiturcharakter und wird abstrahiert von meiner Stimme auch für andere außer mir interpretierbar, was zu behaupten, wie folgt, zu einem Problem führt, über welches ich allerdings problemlos hinwegsehe.
Ich sage
wenn das mittels meines Rekorders gespeicherte Diktat mein Mittel repräsentiert
dann leiste ich in diesem Mittel
was mir zu erbringen nur irgend possibel und passabel erscheint
und nenne die Leistung Partitur
da sie mir in meinem Mittel zwar erbracht und gemäss zur Präsentation reif
jedoch um zur Präsentation zu gelangen ferner irgendwelcher Interpretation bedürftig erscheint
und Michael Hardenberg sagt
jedoch bedarf eine Partitur eines Adressaten
da sie nur so zu einem Interpreten gelangt
der das Seine in seinen Mitteln leistet
und ich sage
jedoch mir erscheint vernebelt
welche Adresse auf meiner Partitur stehen und gemäss in welchen Mitteln die Interpretation geleistet werden dürfte
und so stehe ich gar dürftig auf ferner
vernebelter Flur
und meine sogenannte Partitur repräsentiert gar keine
Ich interpretiere mich gern selbst. Ehrlich, ebenso gern lasse ich mich aber mit der Interpretation anderer konfrontieren.
Ihr Buch weist keinerlei Beistriche oder Punkte auf – sind Sie ein Verfechter der „Neuesten der Neuen deutschen Rechtschreibung“ und der deutschen Grammatik? Oder hindert Sie jene in Ihrem künstlerischen Ausdruck?
Ich sage
für Regeln sind Mathematiker gut
aber davon verstehe ich nichts
also brauche ich einen Mathematiker
aber keinen Trottel
ich bin angeschlagen
darum darf ich das sagen
Ich sage
Kontrolle aufgeben
unbedingt Kontrolle aufgeben
weil dies bedeutet Wasser marsch
Empfinden Sie ihre Form des Schreibens als eine eigenstehende literarische Kunstform? Sind Sie im Stande ihrer gesprochenen, nein ich meine auszusprechenden, nein ich meine zu verlautbarenden, nein ich meine lautmalerischen Schreibweise ohne Punkt und Komma einen Überbegriff zu geben, im Sinne, sie in eine literarische Form wie etwa die Belletristik oder anders dem Sachbuch oder dem Taschenbuch zuzuordnen? Wenn ja, wie hieße der, die oder das dann? Also, können sie Ihre Schreibweise mit einem Überbegriff titulieren?
Auf die Verortung oder Verortbarkeit angesprochen, würde ich sagen: Einerseits ist meine Arbeit grundneu und beansprucht einen eigenen Platz, der noch keinen Namen hat. Andererseits stelle ich sie und mich heute in die Tradition des Blues, ich bin Junior, Nachfahre, Erbe, Erneuerer, wobei mir nicht daran gelegen ist, dass es den Blues je genau so gegeben hat, wie ich es mir vorstelle. Ich fühle im Blues eine gewisse Heimatlichkeit. Ich erzähle nämlich existenzielle Geschichten mit einer gewissen Musikalität. Meine Stücke spielen immer auf zwei Ebenen, eine Geschichte und ihre Sprache auf der einen, Art und Grad der Musikalität auf der anderen. Derzeit beschäftige ich mich mehr mit der musikalischen: Puls, Impulse und Pausen, gebündelte Impulsfolgen alias Patterns alias Artikulationszusammenhänge alias Phrasen. Aber das wechselt.
In den „Siebzehn Sätzen“ Ihres Buches strotzt es nur so von lautmalerischen Begriffen, welche aus jedem Satz eine eigenständige Kopf-Kinoszene entwickeln – beim Lesen Ihres Buches hat sich jeder der Sätze wie ein Gemälde vor meinem geistigen Auge aufgetan. Was dabei auffällt, sind ihre ständigen Erklärungs-Aufzählungen in der „also“-Methode (würde ich diese jetzt mal zur Einfachheit so nennen) – als Beispiel führe ich hier einen Ausschnitt an:
„…
also beiläufig zuweggebrätschten
also beiläufig zusammengetischlerten
also zurechtgebogenen und schlecht
also eigentlich sogar erbärmlich zusammengemachten und gleich miserabel glatt geschliffenen und darum holperigen
also högerigen
also hügeligen und mittlerweilen auch noch massiv verzogenen
also verbogenen
also im Grund absolut unebenen
…“
(Auszug aus „Siebenter Satz – Der Männerchor“)
In Bezug darauf die Frage: Finden Sie, dass das geschriebene und gesprochene Wort oftmals so begrenzt in seinem Bedeutungsrahmen ist, dass es zum Beschreiben einer Begebenheit bzw. Situation mehrerer Wörter bedarf, um diese Begebenheit bzw. Situation im gewünschten Maße auszudrücken? Oder ist diese Erklärungs-Aufzählungs-“also“-Methode einer Ihrer künstlerischen Spleens?
Ich sage
bezeichnen heisst benennen
benennen heisst beim Namen nennen
der Name ist das Bild
das Bild ist das Bild
(So brauche ich denn eine Sprache, eine Sprache so frei, dass ich damit malen kann, eine, die nicht gehorcht, sondern aufhorchen lässt, sich regt, bewegt, wälzt, erhebt, wankt, torkelt, bemüht, abrackert und die Sinn trägt, immer noch Sinn trägt, ja, aber tanzt, schwebt, fliegt, flattert, flackert, sich auflöst in Schall und Rauch, Äther, Äther oder Asche, Asche, und so brauche ich denn wieder eine Sprache, beginnend etwa so:)
Ich sage
es ist an der Zeit
dass wir wieder lernen
die Rede zu führen
anstatt uns vom Sprachgebrauch vorsagen zu lassen
Die siebzehn Geschichten – die Sie uns erzählen, die dazu noch alle an verschiedenen nicht geografisch lokalisierbaren Orten, aber doch scheinbar alle zu in etwa derselben Zeit passieren, der Weihnachtszeit, kurz vor der Geburt unseres Heilands – weisen sehr oft einen Bezug zur Religion auf. Ob es jetzt „kardinalsrot“ ist, oder Namen wie Josef, Maria, Magdalena, Kathedrale, und nicht zuletzt die Allelujas und Hallelujas zu Ende eines jeden Satzes. Andererseits kommen Begriffe wie militärgrün, marineblau, Karabinergewehr, Heilsarmee oder andere vor, die sich an Bezeichnungen der Kriegsmaschinerie anlehnen. Wie stehen Sie zu Religion und Kirche und deren Heilauftrag und die Seelsorge? Ist Religion ein Quell für ihr Schaffen? Stehen wir, wie einige Verschwörungstheoretiker meinen, kurz vor dem Ende, also „Kurz vor der Erlösung“ – wie auch der Titel Ihres Buches lautet?
Ich beanspruche Bilder aus der Bibel, nicht nur, das wäre arm, auch sonst aus aller Welt, woher auch immer sie kommen, die starken, und übernehme entsprechend die Verantwortung, sie neu zu malen, machen, auch meine eigenen inneren, und zwar mit meinem Strich, der Sprache ist.
Unsere Welt scheint, wenn wir die Nachrichten hören, sehen oder lesen, voller Krieg und Elend? Armut, Elend, Einsamkeit, Unglück, der Kampf im Alltag und die Härte des Alltags etc. durchziehen ihre Siebzehn Sätze, doch am Ende der Sätze; sobald in der fernen oder nahen Stadt die Glocken der Kathedrale erschallen und alle mitsammen melodieren und modulieren, scheint alle Last und alles Elend verflogen. In Anbetracht dessen die Frage: Glauben sie an die „Happy Endings“ im Leben, an das Gute im Menschen und daran, dass die Probleme unserer Gesellschaft gelöst werden werden? Oder stellt diese plötzliche, jähe Eintracht eher das Bild einer heuchlerischen Gesellschaft dar? Dieser Eindruck kam mir nämlich beim zehnten Satz „Die traute Familie“, die sich einmal im Jahr zusammenfindet, um sich dann doch dieses eine Mal im Jahr versöhnlich die Hände zu reichen. Liegt grundsätzlich eine Gesellschaftskritik in dieser Geschichte?
Ich sage
dass ich lebe
ist beschissen
aber nicht so
beschissen
sondern so
bescheissend
Und hier noch einige Details zur Person Michael Fehr – michaelfehr.ch:
Michael Fehr, geboren 1982 in Muri bei Bern, lebt in Bern. 13 Jahre Schlagzeug-, vorübergehend Perkussionsunterricht, Studium der Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft, ohne Abschluss. Danach Studium am Schweizerischen Literaturinstitut und an der Hochschule der Künste Bern (Master in Contemporary Arts Practice). Zahlreiche Auftritte, etwa an der Berner Biennale oder dem Berner Literaturfest, und Veröffentlichungen in Zeitschriften.
„Kurz vor der Erlösung” ist seine erste Buchpublikation. Im Juni 2013 wurde er dafür mit einem der Literaturpreise des Kantons Bern ausgezeichnet.
Weitere Auszeichnungen/Förderungen (alle 2012):
Literatur-Mentoring des Kantons Bern 2012
Werkbeitrag der Abteilung Kulturelles der Stadt Bern
BEST – Trächsel-Stipendium zum Berufseinstieg 2012
Mehr Informationen zum Franz-Tumler-Literaturpreis findet ihr hier: www.tumler-literaturpreis.com
Foto von Patrick Savolainen