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April 11, 2012

Hoffnungslose Hoffnungsgruppe. Interview mit dem Filmhistoriker Ralf Schenk

Martin Hanni
CINEMA SPECIAL – DAY 3

Rainer Werner Fassbinder kennt man! Wer aber kennt Bruno Jori? Dabei haben beide Regisseure bei einem unfertigen und bis heute nahezu unbekannten Dokumentarfilm der 1960er Jahre zusammengearbeitet, dessen Bänder im Keller eines Berliner Kameramannes liegen.

Nachdem der Südtiroler Regisseur Bruno Jori 1964 für den Spielfilm „Bagnolo – Dorf zwischen Rot und Schwarz” mehrmals ausgezeichnet wurde, dreht er 1966 im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks in Verona den Dokumentarfilm „Hoffnungsgruppe“. In dieser Zeit begegnet Jori einem jungen interessierten 21jährigen Studenten, der erste Filmerfahrungen sammeln möchte: Rainer Werner Fassbinder. Während sich am 10. Juni 2012 zum 30. Mal der Todestag Rainer Werner Fassbinders jährt, fristen Fassbinders erste Schritte in die Filmwelt, ihr Dasein in einem Berliner Keller. Ein Gespräch mit dem Filmhistoriker Ralf Schenk:

Herr Schenk, was wissen sie über die Zusammenarbeit von Rainer Werner Fassbinder und dem Südtiroler Regisseur Bruno Jori?

Im Juli 1967 bewarb sich Rainer Werner Fassbinder zum Studium an der Berliner Film- und Fernsehakademie. In seinem Lebenslauf vom 26.7.1967 verwies er auf den Dokumentarfilm „Hoffnungsgruppe”, an dessen Herstellung er von Ende Juli bis Anfang August 1966 als Mitarbeiter des Südtiroler Regisseurs Bruno Jori beteiligt gewesen sei.

Warum ist dieser Film, an dem Fassbinder mitgearbeitet hat, immer noch unbekannt?

Im Frühsommer 1993 kam der Münchner Kameramann Richard R. Rimmel mit einer dreiviertelstündigen, schwarzweißen, zweistreifigen Arbeitskopie von „Hoffnungsgruppe”, vermutlich der einzig existierenden, nach Potsdam. Ob der Film, in dessen Abspann sich ein Auftragsvermerk des Norddeutschen Rundfunk befindet, jemals öffentlich gelaufen ist, bleibt fraglich. Tatsache ist, dass der Film für den NDR in keinem Archiv mehr auffindbar ist. Richard R. Rimmel wollte über das Filmmuseum und das Filmbüro Brandenburg den Film fertig stellen, doch das Projekt zerschlug sich. Dank der Vermittlung von Bärbel Dalichow, der Direktorin des Filmmuseums, erhielt ich damals die Gelegenheit, sowohl das Material zu sehen als auch mit dem Kameramann darüber zu sprechen.

Um was geht es im Film „Hoffnungsgruppe“?

Der Film beschreibt die Zustände des katholischen Heims „Pax et bonitas”, das in Verona für minderjährige, ledige Mütter eingerichtet worden war.

Was können sie über den Inhalt erzählen?

„Hoffnungsgruppe” geriet weit über das Heimporträt hinaus zu einer kritischen Beschreibung der italienischen Gesellschaft. Jori skizzierte das Schicksal junger Mädchen, die im Heim oft Zuflucht aus einer furchtbaren Umgebung fanden. Hingewiesen wird zum Beispiel auf den Fall einer taubstummen jungen Frau, die von ihrem Vater vergewaltigt wurde. Auf der anderen Seite werden die Mädchen auch von den Schwestern nicht mit Samthandschuhen angefasst. Sie werden rund um die Uhr überwacht, erhalten Spritzen, wenn sie sich aufgeregt zeigen; ihre Kinder werden nicht selten angeschnallt, um sie zur Ruhe zu bringen. Der Film, der unter anderem detaillierte Szenen einer Geburt integriert, endet mit einer Trauung; ein kleiner Junge sitzt auf dem Boden inmitten tanzender Frauen; und Giulia, das Älteste der Mädchen, verlässt das Heim. Ihr Bus fährt vorbei an den Lichtern der Großstadt, an Geschäften und Bars. Die Kamera schwenkt übers nächtliche Verona.

Wie stieß Fassbinder zum Filmteam um Bruno Jori?

Richard R. Rimmel, der Kamermann Bruno Joris, erzählte Fassbinder von dem Veroneser Projekt, dessen Idee Jori und er gemeinsam entwickelt hatten, und dass das Team demnächst von München aus mit einem kleinen VW nach Italien aufbrechen würde. Fassbinder war laut Rimmel vom Thema des geplanten Films sehr angetan und auf die Realisierung sehr neugierig.

Was war die Rolle Fassbinders am Set?

Fassbinder übernahm die Tonaufnahmen, manchmal auch die Organisation am Set (das heißt Regie). Er kam später auch sporadisch in den Schneideraum, half zum Beispiel beim Texten und ließ sich in den Pausen Theorie und Praxis des Schneidens erklären.

Warum hat Fassbinder – außer im besagten Lebenslauf aus dem Jahr 1967 – den Film nie wieder erwähnt?

Fassbinder hat, einer Auskunft seiner langjährigen Cutterin Juliane Lorenz zufolge, später nie mehr über „Hoffnungsgruppe” geredet; vermutlich waren die Tage in Verona für ihn, nachdem die Endfertigung des Films nie zustande kam, nur eine biographische Marginalie.

Gibt es noch eine Hoffnung für die „Hoffnungsgruppe“? 

Vermutlich nur dann, wenn sich eine Möglichkeit ergibt, Herrn Rimmel zu überzeugen, den Film zu vollenden. Dazu bedarf es natürlich einer gewissen Summe Geldes. Welche Ansprüche der Kameramann in diesem Zusammenhang stellt, ist mir nicht bekannt.

Photo: Bruno Jori, Mario Deghenghi – Filmarbeit in Süditalien

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