Contemporary Culture in the Alps
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„Man soll die Funktion nicht merken“

Giacomo Raimondi von Casba Studio über Recherche, Reduktion und das Lernen im Tun

22.12.2025
Ludwig Mehler
„Man soll die Funktion nicht merken“

© Ludwig Mehler

© Ludwig Mehler

Es ist früher Nachmittag in Gries, als ich das Studio von Casba betrete. Drinnen ist es ruhig, fast beiläufig. Kein Verkaufsraum im klassischen Sinn, eher ein Ort, an dem gearbeitet und gedacht wird. Rechts ein Sofa, darauf ein Hund, der kurz den Kopf hebt und dann beschließt, dass dieser Besuch offenbar in Ordnung geht. Giacomo Raimondi begrüßt mich offen, ohne Eile, ohne Distanz. Schnell wird klar: Hier geht es nicht darum, etwas zu erklären oder zu verkaufen. Sondern darum, Dinge zu teilen.

Noch bevor wir uns richtig setzen, bin ich schon mitten im Raum – und mitten im Gespräch. Kaffee? Klar. Dann beginnt Giacomo zu erzählen. Nicht in vorbereiteten Sätzen, sondern so, wie jemand erzählt, der wirklich Freude daran hat, zu zeigen, woran er arbeitet. Materialien, Prototypen, kleine Details, Funktionen. Dinge, die man anfassen muss, um sie zu verstehen. Ich merke schnell, dass ich hier nicht durch ein Studio geführt werde, sondern durch eine Denkweise. Eine Haltung. Vielleicht sogar durch eine Form von Obsession.
Dass mich funktionale Kleidung und Streetwear interessieren, hilft sicher. Aber das allein erklärt nicht, warum dieses Gespräch sofort so organisch wird. Es liegt an der Art, wie Giacomo über seine Arbeit spricht: neugierig, offen, ohne Pose. Casba wird hier nicht präsentiert, sondern gelebt. 

Casba Studio am Grieser Platz in Bozen: Giacomos „Küche“ zwischen Laden, Kreativwerkstatt und Research-Labor, © Ludwig Mehler

Casba Studio ist kein Label, das aus einem Businessplan heraus entstanden ist. Sondern aus Neugier. Aus dem Wunsch, Dinge zu verstehen – und sie dann besser zu machen. Giacomo erzählt, dass er lange gar nicht wusste, wie Kleidung eigentlich produziert wird. „Ich war nur Konsument“, sagt er. Supermarktjobs, Software, verschiedene Stationen, ein Jahr in Berlin. Und irgendwann, um 2015 oder 2016, dieser Moment: jetzt oder nie. Ohne großes Wissen oder Netzwerk, ohne formale Ausbildung, aber mit dem Bedürfnis, es zumindest zu versuchen. Angefangen hat alles im Kinderzimmer, mit der einfachen Idee, Kleidung nach den eigenen Bedürfnissen, dem eigenen Empfinden und der eigenen Laune zu machen. Heute ist Casba Studio ein Einmann-Unternehmen, das Giacomo in Eigenregie führt. Produziert wird in Mailand. Entwickelt wird hier – in Bozen. Genauer gesagt: von jemandem aus Leifers, der bewusst in der Region geblieben ist.

Dass dieses Nicht-Wissen auch eine Freiheit sein kann, merkt man Casba bis heute an. Die Marke ist kein Moodboard, keine Kollektion im klassischen Sinn. Sie ist ein Prozess. Ein langsames Herantasten. T-Shirts, Hoodies, Hosen, Jacken – und irgendwann immer mehr Accessoires, Experimente, Systeme. Nicht, weil das strategisch sinnvoll gewesen wäre, sondern weil es sich ergeben hat.
„Mein Hauptinteresse ist die Recherche“, sagt Giacomo. Die Suche nach Materialien, die heute vielleicht noch keinen klaren Zweck haben, aber morgen genau das lösen, was fehlt. Vieles davon sei zunächst reine Neugier, fast zweckfrei. Um am Ende alles wieder zu reduzieren. Auf das Wesentliche.

Eine Tour durch Casbas neueste Experimente, © Ludwig Mehler
About the authorLudwig MehlerIch lebe seit vier Jahren in Bozen und studiere Kommunikations- und Kulturwissenschaften. Mich begeistert alles, was aus ehrlicher [...] More
Er zeigt mir einen reflektiven Stoff, der mit einer speziellen Batiktechnik eine unerwartete visuelle Tiefe entwickelt. Taschen und Softshell-Jacken aus wasserabweisenden Materialien. Verschlusssysteme, die weit entfernt sind von gängigen Magnet- oder Boa-Lösungen. Ein Flaschenhalter zum Beispiel schließt mit einer Mischung aus Drehmechanik und Heavy-Duty-Magnet – unscheinbar, aber nahezu unkaputtbar. Daneben die Basics: T-Shirts, Hoodies, Cargo-Hosen. Auf den ersten Blick klassische Streetwear in Schwarz, mit minimalem Logo. Doch die Details erzählen eine andere Geschichtte. Schnitte, die das Shirt faltenfrei fallen lassen. Exakt gewählte Grammaturen. Super-Heavy-Cotton, damit die Kapuze richtig steht. Für manche überflüssige Spielereien eines Material-Fetischisten, („Material-Nerd“, korrigiert Giacomo …), für den Leiferer aber ein Qualitätsanspruch, der in Europa selten geworden sei. Direkt neben dem Eingang steht eine kleine Feinwaage. Darauf liegt eine Brille. Kein Hinweis, kein Schild. Man muss fragen. 21 Gramm, erklärt Giacomo. 3D-gedruckt, modulare Gläser, extrem leicht. „Seitdem kann ich keine anderen Brillen mehr tragen.“ Es ist einer dieser Momente, in denen sich Casbas Verständnis von Funktion verdichtet: Man sieht nichts. Aber man spürt alles.

Funktionalität ist bei Casba kein ästhetisches Versprechen aus Ripstop, Seilen oder Netzen. Sie ist keine Pose. Im Gegenteil. Wenn etwas wirklich funktioniert, fällt es nicht auf. „Du sollst die Funktion nicht merken“, sagt Giacomo. Erst im Benutzen zeigt sich, ob etwas gut ist. Oder nicht.
Deshalb wirken Casba-Produkte auf den ersten Blick oft unspektakulär. Schwarz. Reduziert. Keine Grafiken. Kaum laute Farben. Doch je länger man sich damit beschäftigt, desto deutlicher wird: Diese Dinge sind nicht minimalistisch, weil Minimalismus gerade angesagt ist. Sondern weil alles andere konsequent weggelassen wurde.

Die erste Siebdruck-Schablone. Heute Referenz. © Ludwig Mehler

Kurz gefragt:

Regenjacke statt Regenschirm.
Letzteren hat Giacomo noch nie benutzt.

Unsichtbares Design statt Statement Piece.

Berge im Winter statt Stadt im Regen.

Gorpcore oder Urban Minimal?
Keines von beidem. Beides nervt langsam. Urban Minimal wirkt oft seelenlos, Gorpcore wie ein urbanes Messner-Kostüm.

Radikaler Minimalismus für das Produkt, ein Karabiner mehr für ihn selbst.

Lieber bis spät im Studio als Dolomiten bei Sonnenaufgang.
Ohne Ziel, einfach arbeiten. Oder, wie Giacomo sagt: kochen.

© Ludwig Mehler

Gerade im Kontext aktueller Gorpcore-Trends ist das konsequente Weglassen bemerkenswert. Casba arbeitet mit Referenzen aus dem Outdoor-Bereich, aus der Bergwelt, aus technischer Kleidung – aber nie als Look. Die Berge sind hier kein Stilmittel, sondern Realität. Kälte. Regen. Alltag. „Ein Bergrucksack kann super funktional sein“, sagt Giacomo, „aber im Alltag oft völlig unpraktisch.“ Zu viele Taschen. Zu viel Gewicht. Zu viel Erklärung. Also nimmt er das Prinzip, nicht das Produkt. Reduktion statt Übertragung. Ein Rucksack, bei dem alles weg ist, was nicht gebraucht wird. Ein System, das Raum lässt für die Art, wie Menschen Dinge nutzen. Manche benutzen ein Produkt anders, als gedacht – und genau das ist gewollt. Casba gibt einen Rahmen vor. Den Rest übernimmt der Alltag.

Diese Haltung zieht sich auch im Umgang mit Materialien. Giacomo spricht offen darüber, wie skeptisch er gegenüber Nachhaltigkeit als Marketingbegriff ist. Ihm gehe es weniger um Labels als um Dauer. Ein Produkt, das zehn Jahre hält, sei oft ehrlicher als eines, das aus „grünen“ Materialien besteht, aber nach zwei Saisonen ersetzt wird. Performance und Langlebigkeit zuerst. Wenn sich das mit nachhaltigen Prozessen verbinden lässt, umso besser. Auf einem Regal liegt ein Gurtband. Schwer. Robust. Daneben Stoffrollen in unterschiedlichen Grammaturen. Giacomo erklärt Unterschiede, die man kaum sieht, aber sofort fühlt. „Ein gutes Material braucht keine Grafik.“ Ein Satz, der hängen bleibt.

Ein Raum zum Denken, Materialien zum Werden; © Ludwig Mehler

Dass Casba mehr ist als eine Eigenmarke, zeigt sich auch in den Kollaborationen. Etwa mit 24Bottles, für die Giacomo einen funktionalen Bottle-Holder entwickelt hat. Keine Image-Geste, sondern eine logische Erweiterung eines Alltagsobjekts. Kollaborationen entstehen hier nicht aus Kalkül, sondern aus Resonanz. „Ich mache keine Projekte, bei denen ich nichts beitragen kann“, sagt er. Es geht darum, etwas Eigenes einzubringen – und selbst zu lernen.

Dass all das in Bozen passiert, ist kein Zufall. Giacomo hat in Metropolen gelebt, das Tempo kennengelernt, die Möglichkeiten – und die Erschöpfung. Bozen bietet etwas anderes: Rhythmus. Raum. Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Scheitern. „Die echte Gelegenheit ist, das zu machen, was dich interessiert“, sagt er. Der Rest ergebe sich. Im Studio ist das spürbar. Keine Hektik. Keine permanente Performance. Konzentration. Und zwischendurch ein Hund auf dem Sofa.

Giacomo Raimondi, dort, wo die Dinge entstehen; © Ludwig Mehler

Was als Nächstes kommt? Auf diese Frage zögert Giacomo. Nicht aus Unsicherheit, sondern aus Überzeugung. Er will es selbst noch nicht so ganz wissen, scheint es. Statt von einem Plan spricht er von Neugier, Lernfähigkeit und einem bewussten Mangel an kreativen Grenzen und Zielsetzungen. Offen bleiben. Weiterfragen. Weiter verbessern. Ein Konzept, das sich in den minimalistisch eingerichteten vier Wänden seines White-Cube-Studios manifestiert.

Es ergibt sich der Eindruck einer Marke, die sich nicht neu erfinden will. Casba entwickelt sich nicht entlang von Trends, sondern entlang von Fragen. Was funktioniert wirklich? Was kann man weglassen? Was lässt sich verbessern? Produkte entstehen hier nicht, um etwas zu beweisen, sondern um benutzt zu werden. Nicht nur für die nächste Saison.

Oder, wie Giacomo es formuliert: Man hofft, nie an den Punkt zu kommen, an dem man nichts mehr zu lernen hat. Denn genau dort, sagt er, hört alles auf. Casba Studio ist kein Versprechen für die Zukunft. Sondern ein sehr gegenwärtiger Versuch, Dinge richtig zu machen. Schritt für Schritt. Und Gramm für Gramm.

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Tags

outdoor, leifers, Casba Studio, Giacomo Raimondi, Gorpcore, Streetwear
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