Contemporary Culture in the Alps
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Was passiert, wenn man einer Generation vertraut?

Tabula Rasa Showcase: Ein Abend, der zeigt, wie Zukunft in Bozen aussehen könnte

16.12.2025
Ludwig Mehler

© Weigh Station/Anna Cerrato

Bozen, Waaghaus, ein Mittwochabend im Dezember: Auf der Terasse wird entspannt an einem Fahrrad geschraubt, um die Ecke riecht es nach gebratenen Knödeln und irgendwo zwischen Lauben und Kornplatz spielt jemand Backgammon auf einer mobilen Tischplatte, die an einer Straßenlaterne hängt. Wenn man das Tabula Rasa Showcase in einem Satz zusammenfassen müsste, wäre es wohl dieser: So sieht es aus, wenn man jungen Initiativen vertraut – und sie einfach machen lässt.

© Weigh Station/Anna Cerrato

Denn Tabula Rasa ist kein gewöhnlicher Förder-Call. Die Weigh Station hat hier ein neues Kapitel der lokalen Kulturförderung aufgeschlagen: ein Experimentierraum für junge Menschen zwischen 18 und 26, der nicht prüft, bewertet oder aussiebt, sondern Raum lässt. Keine Jury, kein bürokratischer Hindernisparcours, stattdessen Vorschussbudget, Vertrauen und die Einladung, Ideen ohne Angst zu realisieren. Und der Effekt ist spürbar: eine wimmelnde, offene, warm vibrierende Energie, die das Waaghaus drei Stunden lang in ein Labor kollektiver Zukunftsbastelei verwandelt.

Sieben Projekte, sieben Energieformen, ein gemeinsamer Nenner: machen.

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde mitten im halb interessierten, halb verwirrten Apéro-Publikum im Café Waag verteilt sich die Menge. Sieben Projekte liegen vor uns – und keine:r wirkt so, als hätte er oder sie weniger als 120 Prozent Herzblut investiert.

„Cycles of Repair“: Maximilian Stahl kümmerte sich draußen um bedürftige Drahtesel, © Weigh Station/Anna Cerrato

Ganz zentral, auf der Terasse: Cycles of Repair, wo Maximilian Stahl schraubt, erklärt, improvisiert. Sein Projekt ist eine mobile, gemeinschaftlich nutzbare Fahrradwerkstatt, die Reparaturwissen zugänglich machen und eine niedrigschwellige Reparaturkultur fördern soll. Zwei DJ-Sets später tanzt dieselbe Terrasse zu den Tunes von verovasko und giunai. Reparaturkultur als clubtaugliche Vorband – warum eigentlich nicht? 

„giunai“ und „verovasko“ an den Decks, © Weigh Station/Anna Cerrato

Zwischen Waaghaus und Madonna-Apotheke stehen Leika Su Kutzke und Steffi Feiertag mit ihrem Projekt O:PLAY, eine mobile Spielstation, gebaut aus einem recycelten Zeitungsaufsteller, der nun zwei vollgepackte Kisten mit allen möglichen Spielen transportiert. Dazu runde Tischplatten, die sich an Bänken, Rohren oder Laternen befestigen lassen. „Wir haben uns gefragt, warum es in Parks zwar Bänke, aber oft keine Tische gibt – und warum sich niemand draußen zum Spielen trifft“, erzählen sie. O:PLAY möchte genau das ändern: einen Anlass schaffen, stehenbleiben, spielen, reden.

Für mehr Spiel im öffentlichen Raum: O:PLAY von Leika Su Kutzke und Steffi Feiertag, © Weigh Station/Anna Cerrato

Direkt daneben dampft und duftet es: Das Crumb Collective serviert vegetarische Knödelvariationen und warmen Punsch aus ihrer selbstgebauten, mobilen Küche. Gerettete Lebensmittel, offene Gespräche, warme Hände. „Wir wollten aus dem spielerischen Umgang mit Resten etwas machen, das Menschen zusammenbringt“, sagen sie – und es funktioniert. Kaum jemand geht hier vorbei, ohne wenigstens kurz stehenzubleiben und Punsch und Knödel zu probieren.

Die Gratis Knödelverkostung gab's dank des Crumb Collective, © Weigh Station/Anna Cerrato

Im Café zeigt Fotograf und Designstudent Theo Kortschak auf einen Bildschirm mit Dokumentationen und einer kleinen Vorschau auf sein Projekt zweifünf, einen Open Call und die daraus entstehende Pop-up-Ausstellung. Sein Anliegen ist klar: „In Südtirol gibt es so viele kreative Leute außerhalb der Uni, aber wenig Austausch. Ich wollte eine Plattform schaffen, die alle zwischen 18 und 30 einschließt – egal ob sie studieren oder nicht.“ Tabula Rasa hat ihm dafür etwas gegeben, das sonst selten ist: Zeit, Vertrauen und einen Vorschuss. „Vor allem die finanzielle Unterstützung im Voraus,“ sagt er, „hat es möglich gemacht, ohne eigenes Risiko loszulegen“. Die aus dem Open Call hervorgegangene Ausstellung fand am darauffolgenden Samstag in den Räumlichkeiten von spazioama in Bozen Süd statt – der erste sichtbare Meilenstein eines Projekts, das klar das Potenzial für eine zweite, dritte, vierte Runde hat.

Theo Kortschak beim Anbringen seines „Platzhalter-Showcase“ – die richtige Ausstellung poppte am folgenden Samstag anderswo auf, © Weigh Station/Anna Cerrato

Im selben Raum präsentiert Laura Stimpfl ihre Stofftaschen aus dem Projekt Ritagli di storie: Borse che raccontano – entstanden in einem Workshop, in dem Textiltechniken und persönliche Erinnerungen miteinander verwoben wurden. Patchwork-Upcycling als kollektives Erzählen. Dann die Genossenschaft Kaleido, die wohl politischste Initiative des Abends. Ihr Ziel: solidarischer Wohnraum in Südtirol. „Das Verhältnis zwischen Mieten und Einkommen stimmt schon lange nicht mehr“, erklärt mir Leo aus der Kerngruppe des Projekts, „und wir wollen Immobilien langfristig dem kapitalistischen Markt entziehen, um sie als genossenschaftlichen Wohnraum zur Verfügung zu stellen“. Ein ambitioniertes Projekt – und gleichzeitig eines, das man hier dringend braucht.

In einem Raum wird genetzwerkt, im nächsten gepatchworkt. Zahlreiche Interessierte wimmeln sich um die Wohngenossenschaft „Kaleido“ und „Ritagli di storie“ von Laura Stimpfl. © Weigh Station/Anna Cerrato

Im Keller schließlich: Material Matters mit ihrem Projekt Cupido. Eine KI-gestützte Web-App, die Materialien an der Uni katalogisiert und öffentlich sichtbar macht. „Re-use ist immer besser als Recycling“, sagt Matteo Antonazzo, der Gründer der Initiative und erzählt, wie aus einer chaotischen Sammlung in den Werkstattgängen der Fakultät für Kunst und Design an der unibz ein strukturiertes Material-Ökosystem wurde. Seine Vision: eine städtische Materiothek, offen für alle.

Mit ihrer Tauschbörse im Keller des Waaghauses verliehen „Material Matters“ um Matteo Antonazzo alten Materialien neuen Glanz, © Weigh Station/Anna Cerrato

So unterschiedlich die Projekte, so klar die gemeinsame Stimmung: Es wird geredet, gefragt, probiert, geschraubt, gegessen, gespielt. Ein Netzwerk, das sich innerhalb weniger Stunden wie von selbst formt. Vielleicht ist das der eigentliche Erfolg von Tabula Rasa: ein Format, das Verbindungen erzeugt, bevor es Ergebnisse fordert. Dass es nächstes Jahr weitergeht – mit verdoppeltem Budget – überrascht hier niemanden. Viel mehr überrascht, wie rund, überzeugend und professionell diese erste Ausgabe bereits wirkt.

Wenn dieses Showcase eines gezeigt hat, dann das: Junge Menschen in Südtirol haben nicht nur Ideen, sie haben Visionen. Und wenn man ihnen Ressourcen, Raum und Vertrauen gibt, entsteht etwas, das sich nicht in sieben Projekten zusammenfassen lässt. Sondern in einer Haltung. Tabula Rasa hat den Startknopf gedrückt. Jetzt heißt es laufen lassen. Und vielleicht steht man nächstes Jahr wieder hier, auf der Terrasse des Waaghaus, ein Glas in der Hand, während jemand ein Fahrrad repariert, jemand anderes auf einer mobilen Tischplatte gegen Fremde „Mensch, ärgere dich nicht“ spielt und die Stadt kurz so wirkt, als könne sie alles werden.

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Tags

Tabula Rasa, weigh station
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