Kunsthistorikerin Elisabetta Rattalino über die Ausstellung „Inhabited Dissonance“ in der Stadtgalerie Bozen

Exhibition view "Inhabited Dissonance", @ Tiberio Sorvillo
Ganz ehrlich! Wie oft setzt ihr euch im Alltag mit der Architektur im öffentlichen Raum eurer Dörfer und Städte auseinander? Betrachtet sie in aller Ruhe, denkt über ihren Ursprung und den Grund ihres Seins nach und diskutiert die Berechtigung ihres Bestehens? Inhabited Dissonance Bozen 1922–2025, die aktuelle Ausstellung in der Stadtgalerie Bozen am Dominikanerplatz, stellt sich genau dieser Frage. Im Fokus steht dabei die Bozner Bevölkerung und deren Umgang mit dem sichtbaren architektonischen Erbe der faschistischen Vergangenheit im Bozner Stadtraum, das nach wie vor Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt.
Speziell für die Ausstellung, die aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt der Fakultät für Design und Künste hervorging, wurden drei Werke geschaffen, die sich mit der vielfältigen Bedeutung jener Zeichen und Symbole befassen, die der Faschismus im städtischen Gefüge hinterlassen hat: ein Diptychon des Fotografen Stefano Graziani, ein Hörstück im öffentlichen Raum der Künstlerin Ela Spalding und eine Installation des Künstlers Eduard Freudmann. In der Schau befinden sich diese künstlerischen Interventionen im Dialog mit einer Auswahl an Materialien aus dem historischen Archiv der Stadt Bozen.
Kuratiert wurde Inhabited Dissonance vom Architekten und Professor für Innenarchitektur und Ausstellungsdesign Roberto Gigliotti und der Kunsthistorikerin Elisabetta Rattalino in Zusammenarbeit mit Lisa Mazza von BAU – Institut für zeitgenössische Kunst und Ökologie sowie Angelika Burtscher und Daniele Lupo von Lungomare, Plattform für Kulturproduktion und Gestaltung.
Die Ausstellung Inhabited Dissonance kann noch bis zum 23. November 2025 jeweils von Dienstag bis Sonntag von 10:00 bis 13:00 und von 16:00 bis 19:00 besucht werden. Am Donnerstag, 13. November 2025 um 18:30 findet ein Künstlerinnen-Gespräch zwischen der Kunsthistorikerin Elisabetta Rattalino und der Künstlerin Ela Spalding über ihr Werk A River Time statt.
franzmagazine hat sich vorab bei Kunsthistorikerin und Co-Kuratorin Elisabetta Rattalino über Grund und Hintergrund der Ausstellung schlau gemacht:


Wie wichtig ist die Auseinandersetzung der Bozner Bevölkerung mit diesen mehr oder weniger sichtbaren Spuren der Vergangenheit? Wie findet sie statt?
Wir können uns Städte als sich ständig wandelnde Gebilde vorstellen, als Schichten aus Zeit, Geschichte und Leben. Bozen bewahrt aufgrund seiner komplexen Geschichte als Grenzstadt mehr als andere italienische Städte zahlreiche sichtbare Spuren der faschistischen Diktatur. Die Mehrheit der Einwohner:innen die heute tagtäglich die öffentlichen Räume der Stadt erleben, sind sich dieser Geschichte, aber auch der ideologischen Bedeutung der architektonischen Formen der Stadt nicht bewusst. Wenn sie davon wissen, haben sie gelernt, damit zu leben, sie nicht mehr zu beachten. In diesem Sinn wird oft ein Fragment des österreichischen Schriftstellers Robert Musil aus seinem Werk „Nachlaß zu Lebzeiten“ von 1936 zitiert, um auf das sehr verbreitete Phänomen hinzuweisen, dass Denkmäler mit der Zeit unsichtbar werden. „Das Auffallendste an Denkmälern ist, daß man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.“
In den letzten Jahren kam es weltweit zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Spuren der kolonialen Vergangenheit, und in jüngster Zeit haben die tragischen Ereignisse des Palästinakrieges die gewalttätigste und unmenschlichste Seite der territorialen Besetzungen erneut aufgezeigt. Soweit möglich und im Rahmen der von den Institutionen gesetzten Grenzen wollten wir mit der Ausstellung die Geschichte der Stadt, wie sie sich in ihren architektonischen Formen manifestiert, wiederbeleben, mit dem Ziel die Bürger:innen über ihrer Beziehungen zum unbequemen Erbe des Faschismus zu befragen und ganz allgemein die Reflexion über den politischen Wert von Eingriffen in den öffentlichen Raum und das kulturelle Erbe sowie über die dabei verwendete visuelle und verbale Sprache lebendig zu halten.
Wie betrachtest du als Kunsthistorikerin die faschistische Architektur?
Lange Zeit hat sich die Kunstgeschichte in Italien nur sporadisch mit den politischen Auswirkungen künstlerischen Schaffens der Zwischenkriegszeit auseinandergesetzt. In jüngster Zeit und ausgehend von einer Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit dem monumentalen und architektonischen Erbe der Diktatur in Italien und den ehemaligen Kolonien hat sich dies geändert. Nun werden die Werke und Künstler im breiteren politischen und soziokulturellen Kontext der zwanzigjährigen Diktatur untersucht, die Beziehung zwischen Subjekten, formalen Entscheidungen und Ideologie hinterfragt und neue Forschungsmethoden angewendet.
In meiner Forschungsarbeit zu Bozen habe ich mich vor allem mit Denkmalpolitik befasst, das heißt mit den Entscheidungen, die von Regierungsvertreter:innen für den öffentlichen Raum der Stadt in Bezug auf Statuen getroffen wurden. Ich habe mich also nicht mit der Entstehung des künstlerischen Schaffens und den formalen Entscheidungen für die Realisierung der monumentalen Skulpturen (zum Beispiel die Statuen von Walther von der Vogelweide, König Laurin und Drusus dem Älteren) befasst, außer insofern, als sie Gegenstand von Debatten zwischen den kulturellen und politischen Eliten geworden waren. Stattdessen habe ich anhand von Archivdokumenten und mit einem historisch-kulturellen und philologischen Ansatz die Geschichte der Werke rekonstruiert, die einst für den öffentlichen Raum bestimmt waren.
Im Allgemeinen wollte meine Forschung, die im Rahmen der fakultätsübergreifenden Arbeitsgruppe „Curating Bolzano Fascist Legacies. A Sustainable Approach to a City’s Dissonant Heritage ” unter der Leitung von Prof. Gigliotti von der Fakultät für Design und Kunst der Freien Universität Bozen durchgeführt wurde, nicht den ästhetischen Wert oder den Innovationsschub leugnen, den die Urbanisierung Bozens während der Diktatur mit sich brachte, sondern aufzeigen, wie die faschistische Diktatur die architektonische Sprache und technische Innovationen geschickt nutzte, um nicht nur ihre Zustimmung zu festigen, sondern auch, manchmal mit gewalttätigen Mitteln, ihre Macht und Kontrolle über dieses Gebiet durchzusetzen und ihre Werte und ihre einseitige Sicht der Geschichte unter den Einwohnern der Stadt zu verbreiten.


Für die Ausstellung wurden sitespezifische Werke angefertigt. Woher stammt die Idee, zeitgenössische Kunst mit faschistischer Architektur in Dialog zu bringen?
Die Ausstellung zeichnet sich durch eine räumliche und architektonische Gestaltung mit starker Ausdruckskraft aus. Das wird bereits im Ausstellungsdesign bemerkbar, das die Architektin Claudia Mainardi vom Mailänder Studio Fosbury Architects zusammen mit Roberto Gigliotti realisierte. Zentrales Thema des Ausstellungsdesigns ist die Unbequemlichkeit als eine räumliche Metapher für die Unbequemlichkeit der faschistischen Diktatur und ihr schwieriges Verständnis. Die entwickelte Ausstellungsstrategie dient dazu, die Aufmerksamkeit der Besucher:innen aufrechtzuerhalten. Zu spüren ist diese Unbequemlichkeit auch bei der Betrachtung der ausgestellten Objekte, die nicht den traditionellen museografischen Ausstellungskanonen – wie etwa die Werke auf Augenhöhe auszustellen – entspricht. Die ausgestellten sitespezifischen Werke folgen einer ähnlichen Logik. Dabei hat jeder Künstler und jede Künstlerin seine eigene Strategie gewählt, um die Verbindung zwischen faschistischer Ideologie und Architektur aufzudecken und alternative Formen der Darstellung und Erzählung dieses städtischen Erbes vorzuschlagen. Das ist nichts Neues, im Gegenteil: Seit den 1960er-Jahren und mit der zweiten Avantgarde schaffen Künstler:innen Werke, die den gesunden Menschenverstand und die Darstellungs- und Erzählkonventionen von manchmal sehr heiklen Themen in Frage stellen. In jüngerer Zeit gehen die künstlerischen Projekte, die in Bozen von den Organisationen BAU und Lungomare – beide Projektpartner – kuratiert werden, in diese Richtung.
Die Ausstellung und die Werke arbeiten also zusammen, um neue räumliche, visuelle und narrative Sprachen anzubieten, die die ästhetische und politische Komplexität des architektonischen faschistischen Erbes im öffentlichen Raum der Stadt zu vermitteln.

