Ësenaim. bei einer Live-Performance in Kopenhagen, © Guillaume BLG
Es gibt diese Musik, die nicht aus Studios kommt, sondern aus der Welt selbst. Aus Stimmen, die man sonst nicht hört, aus Geräuschen, die man lieber verdrängen würde, aus Erinnerungen, die sich weigern, zu verschwinden. Michael Casera aus Südtirol und Sarah Guefif aus Frankreich haben diese Musik gesammelt, aufgenommen, verdichtet. Erst aus Angst, das Erlebte zu vergessen, dann aus dem dringenden Wunsch und der Verantwortung, es zu teilen. Die beiden trafen sich nicht etwa auf einem Festival oder in einem Seminarraum, sondern als Field Worker inmitten humanitärer Einsätze für Ärzte ohne Grenzen (MSF). Ihr Projekt heißt Ësenaim., und am 17. Oktober 2025 erscheint in der BASIS Vinschgau Venosta ihr DebütalbumTalk About – veröffentlicht beim dänischen Label Petite Victory Collective.
Wer die Reise des Duos nachvollziehen will, kann mit den beiden bereits erschienen EPs beginnen: Prologue (2024), die ihre Missionen nach Mali, Uganda und in den Südsudan in Tracks wie Take Off, Bamako oder Juba verdichtet. Oder Gaza (2025), eine Zusammenarbeit mit dem palästinensischen Journalisten und Dichter Mohammed Moussa, die Realitäten aus besetzten palästinensischen Gebieten erfahrbar machen. Und dann ist da das Video zu Bidibidi, entstanden mit dem Bozner Videokünstler Drketch69, das einen Blick in eines der größten Geflüchtetenlager der Welt wirft – und zeigt, wie Musik, Poesie und visuelle Kunst zusammenkommen.
Talk About führt diese Arbeit weiter. Ein Album, das sich an die gleichnamige Kampagne von Ärzte ohne Grenzen anlehnt: reden über die Krisen, über die niemand spricht. Über vergessene Kriege, übersehene Katastrophen. Sarah und Michael haben selbst über 20 Einsätze in MSF-Feldern hinter sich. Einige Erinnerungen aus diesen Missionen sind im Album festgehalten. Ein Teil der Einnahmen aus der Tour – jene Konzerte, die Ësenaim. selbst in Zusammenarbeit mit lokalen Kollektiven organisieren, etwa in Amsterdam, Wien, oder in der BASIS Vinschgau – wird an Ärzte ohne Grenzen gespendet. Kreislauf, so weit wie möglich, geschlossen.
Musikalisch erschafft Ësenaim. eine ganz eigene Klangreise zwischen Ambient, Field Recordings und Tribal Techno, doch jedes Sample ist biografisch verankert. Es entsteht ein Sound, der wie Wüstenwind und Maschinenrauschen zugleich klingt – organisch und synthetisch, nah und fern, zwischen Dokument und Traum. Stimmen aus Lagern, Funksprüche aus Einsatzgebieten, Gedichte, die Sarah seit Jahren schreibt. Die Musik ist dicht, mal dunkel, mal leicht und hell, manchmal brutal ehrlich, dann wieder durchzogen von Hoffnungsschimmern – so als würde man in Echtzeit durch Krisengebiete reisen, ohne je dort gewesen zu sein. Um noch genauer zu verstehen, wie Ësenaim. arbeiten und denken, hat franz mit Sarah und Michael gesprochen. Wir hören gespannt zu …
Ihr habt euch während humanitärer Einsätze kennengelernt. Wann habt ihr gemerkt, dass eure Eindrücke und Erinnerungen zu einem künstlerischen Projekt werden mussten – und nicht „nur“ persönliche Notizen bleiben können?
Beide: Eigentlich war es eher ein schleichender Prozess, bis daraus ein künstlerisches Projekt wurde. Aber es gab wohl zwei Schlüsselmomente. Der erste war, als ich Sarahs Aufnahmen entdeckte und die Gedichte las, die sie während ihrer Missionen geschrieben hatte. Sie hatte stundenlanges Material, Tonaufnahmen aus dem Einsatzgebiet – und da wurde mir klar: Daraus muss etwas entstehen. Der zweite Moment: Nach jeder Rückkehr von Einsätzen mit Ärzte Ohne Grenzen wurde es schwieriger, Freund:innen und Familie zu vermitteln, was wir erlebt hatten. Diese wachsende Frustration, kombiniert mit Sarahs Kunst, führte schließlich dazu, das Ganze in ein künstlerisches Projekt zu überführen – verbunden mit elektronischen Musikkompositionen.
Euer Debütalbum trägt den Titel „Talk About“. Worüber sollen wir heute reden – und warum über Musik, Poesie und Klang statt über klassische Worte?
Beide: Am besten erklären wir das mit einer kurzen Anekdote. Als Sarah kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gerufen wurde, waren Freund:innen und Familie sehr besorgt – weil es in den Medien riesige Aufmerksamkeit bekam. Ganz anders bei Haiti zum Beispiel: Dort machte sich niemand Sorgen, obwohl die Sicherheitslage objektiv gefährlicher war. Das bringt unser Anliegen auf den Punkt: Wir wollen mit Talk About über Orte sprechen, an denen wir mit Ärzte ohne Grenzen gearbeitet haben und über die niemand redet. Orte, die kaum Medienpräsenz haben, von denen viele nicht einmal wissen, wo sie liegen. Dafür brauchten wir einen multidisziplinären Ansatz. Worte allein reichten nicht. Deshalb kombinieren wir Poesie, Feldaufnahmen, elektronische Musik, Videos und Motion Design – um ein immersives Erlebnis zu schaffen, das spürbar macht, wie es ist, auf einer Notfallmission zu sein.
In euren Tracks hört man Stimmen, Naturgeräusche, Funksprüche oder Gedichte aus Krisenregionen. Wie sammelt ihr diese Fragmente – und wie verwandelt ihr sie in Musik?
Michael: Sarah begann im Einsatz aufzunehmen, aus Angst zu vergessen – wie es sich anfühlte, im Kongo, im Sudan zu sein. Die Aufnahmen waren spontan: Wenn ein Klang wichtig erschien, nahmen wir ihn mit dem Handy oder einem kleinen Recorder auf, meist unauffällig. Stimmen haben wir selbstverständlich nur mit Einverständnis aufgenommen. Es ging einfach ums Erinnern.
Sarah: Ziel war, in 20, 30 Jahren die Kontexte, Stimmen, Gespräche, sozialen und geopolitischen Umstände noch nachvollziehen zu können. Weil wir von einer Mission in die nächste gingen, drohte vieles zu verschwimmen. Die größte Angst war, die Erfahrungen der einzelnen Länder zu verwechseln oder ganz zu verlieren.
Ihr bewegt euch zwischen elektronischer Musik, Poesie und Live-Performance. Welche Rolle spielt dir Bühne dabei – Konzert, Theater, Ritual oder alles zugleich?
Beide: Für uns ist es eine multimediale, immersive Performance, aber im Kern eher ein Konzert. Letztlich hängt es vom Publikum ab: Wir hatten Auftritte, bei denen wild getanzt wurde, und andere, bei denen die Leute still zuhörten oder einfach nur zusahen. Jede:r nimmt etwas Eigenes mit; es kommt darauf an, was man mitnimmt, was man daraus macht.
Eure Texte und Klänge kreisen um Resilienz, Hoffnung, Schmerz, Gewalt und Erinnerung. Wie gelingt es euch, diese Erfahrungen zu teilen, ohne sie zu ästhetisieren oder zu verfälschen?
Michael: Wir sind uns der Gefahr sehr bewusst und haben viel darüber gesprochen. In der Tradition von Ärzte ohne Grenzen sprechen wir von témoignage, dem Zeugnis. Viele Kolleg:innen tun das mit Worten – wir versuchen, daraus Kunst zu machen. Wichtig ist uns auch die Perspektiven lokaler Kolleg:innen einzubinden. Manche waren direkt an den Kompositionen beteiligt. So schaffen wir ein Feedback-System, das sicherstellt, dass es tatsächlich Zeugnis bleibt.
Sarah: Außerdem wollen wir nicht nur das Leid und die Gewalt zeigen. Wir wollen vermeiden, in Miserabilismus abzurutschen. Uns ist wichtig, auch die Schönheit vieler Länder sichtbar zu machen, die in westlichen Medien meist nur negativ dargestellt werden.
Als Duo arbeitet ihr interdisziplinär und international. Wie sieht eure Zusammenarbeit im Alltag aus?Wer bringt was in den kreativen Prozess ein?
Sarah: Ganz ehrlich – im Alltag gibt es kaum kreative Momente. Meistens geht es um Logistik, Administration, Tour-Organisation. Und das bei unseren Vollzeitjobs.
Michael: Genau, es ist schwierig, das Kreative mit Tourdaten und Job zu vereinbaren.
Sarah: Deshalb wollen wir im nächsten Jahr bewusst weniger machen, um wieder mehr Raum für Kreativität zu haben. Michael arbeitet eher obsessiv – wenn er Material hat, kann er tagelang durcharbeiten. Bei mir ist es eher ein langer Prozess, ich schreibe schon seit zehn Jahren, oft mit Pausen. Am meisten schreibe ich, wenn ich wirklich nichts anderes tue, zwischen Missionen oder im Urlaub, mit viel freiem Raum im Kopf. Michael hingegen braucht nicht so viel Leere, um kreativ zu werden.
Euer Projekt ist eng mit Ärzte ohne Grenzen verbunden. Versteht ihr Ësenaim. auch als politisches Statement oder eher als Einladung zum Zuhören?
Beide: Nein, es ist für uns kein politisches Statement – das ist uns sehr wichtig. Es ist ein Zeugnis. Wir wollen, dass die Leute zuhören. Nicht einmal Empathie fordern wir – nur aufmerksames Zuhören. Bei Ärzte ohne Grenzen gilt Neutralität: Sie ermöglicht Zugang zu Patient:innen, auch in Konfliktzonen. Diese Haltung möchten wir auch in unser Projekt übertragen. Natürlich haben wir persönliche politische Meinungen – aber die sollen nicht in die Kunst hineinwirken.
Am Ende bleibt die Musik: atmosphärisch, immersiv, berührend – eine Kunst, die sich weigert, bloß Kunst zu sein. Ësenaim. erzählen Geschichten, die sonst verschwinden würden, und sie tun es in einer Sprache aus Beats, Stimmen und Bildern. Talk About ist ein Album, das nicht auf Spotify-Algorithmen zugeschnitten ist, sondern auf das kollektive Gedächtnis. Ein Projekt, das nicht nur von der Vergangenheit spricht, sondern Spuren in der Zukunft hinterlassen will. Und da auch etwas an MSF zurückfließt, schließt sich der Kreis endgültig: Aus Einsatz wird Musik, aus Musik Erinnerung, aus Erinnerung Verantwortung. All das findet seine Symbiose in einem Klangerlebnis, das Ekstase und Immersion zulässt, und nur eines verlangt: zuhören – jenen Stimmen, über die sonst geschwiegen wird. Vielleicht ist das die eigentliche Mission des Duos: das Schweigen zu brechen, ohne es mit Lärm zu übertönen. Sondern mit Klang, der bleibt.