Die Verrückung der Hierarchien
Autorin und Theatermacherin Anna Gschnitzer im Gespräch

Autorin und Theatermacherin Anna Gschnitzer, © Sima Dehgani
Autorin und Theatermacherin Anna Gschnitzer, © Sima Dehgani
Anna Gschnitzer, Jahrgang 1986 und aufgewachsen in Sterzing, ist Autorin, Theatermacherin und Dramaturgin. Mit ihrer Familie lebt sie derzeit in München. Ihr Monolog Die Entführung der Amygdala war im März 2025 bei den Vereinigten Bühnen Bozen zu sehen. Im Stück entscheidet sich die Protagonistin – zweifache Mutter und Ehefrau – nach einem Fahrradunfall und einer scheinbaren Amnesie, für eine neue Identität, jenseits von Rollenzuschreibungen und gesellschaftlichen Zwängen. Am Freitag, 13. Juni 2025, um 19:00 liest Anna Gschnitzer aus ebendiesem Text in den Räumen des Sterzinger Kunst- und Kulturvereins LURX. Für franzmagazine habe ich mit ihr über dies und das gesprochen.

Die Idee für diesen Text kam mir, als ich selbst mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Kita war, um mein Kind abzuholen. Mein Mann war an diesem Tag nicht in der Stadt. Ich war spät dran und habe versucht, etwas Zeit gutzumachen, indem ich bei Rot über die Straße gefahren bin. In diesem Moment kam mir der Gedanke: „Was wäre, wenn jetzt ein Auto käme? Wer würde dann mein Kind abholen? Und wer hat eine so enge Beziehung zu meinem Kind, dass es in einer solchen Situation ruhig bleibt?“ Es ist mir niemand eingefallen, der diese Verantwortung hätte übernehmen können. Die Tatsache, dass ich als Mutter die Einzige bin, die gerade diese Verantwortung trägt, hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Mir war klar, dass in unserer Gesellschaft etwas grundlegend schiefläuft. Etwa zeitgleich hatte eine Bekannte von mir tatsächlich einen schweren Unfall. Ihr erster Gedanke galt nicht ihr selbst, sondern ihrem Kind, das sie abholen musste. Als ich davon erfahren habe, empfand ich das als einen sehr zugespitzten Moment, der in meinen Augen beispielhaft für die existentielle Situation als Mutter steht. Mit dieser Überspitzung, dieser Frage nach dem Sein oder dem Nicht-Sein, kann man im Theater gut arbeiten.
Inspiriert dich das, worüber du schreibst, weil du dich darin selbst wiedererkennst?
Ja, ich denke schon. Ich habe mit Mitte 20 angefangen für das Theater zu schreiben. Anfangs habe ich versucht, mich über eine bestimmte Art von Theorie oder Intellekt an die Themen heranzutasten. Doch irgendwann wurde mir klar, dass das eher ein Schutzmechanismus ist – eine Art, die Dinge über die Theorie zu greifen, um in der männlich dominierten Welt der Sprache meine eigene Sprache zu finden und so allen zu beweisen, dass ich auch intellektuell bin. Also habe ich versucht einen Weg zu finden, damit Themen mich emotional wirklich erreichen. Dass ich heute Texte aus dem Leben schreibe, hat aber auch mit bestimmten Büchern zu tun, die ich gelesen habe und die mich stark geprägt haben. So etwa Romane der Schriftstellerinnen Annie Ernaux oder Marieluise Fleißer, die beide sehr persönlich schreiben.
Wie wichtig ist es dir, deine eigene Perspektive sichtbar zu machen?
Sehr wichtig. Die Gesellschaft neigt dazu, Frauen eher in die emotionale Ecke zu stellen. Viele Menschen denken, Frauen schreiben zumeist über ihr eigenes Leben, weil sie sonst nichts anderes haben, worüber sie schreiben können. Was aber viel spannender ist, ist ein Schreiben, dass keinen Unterschied zwischen theoretischer Analyse und emotionalem Zugang macht. Das kann über das Anbinden von theoretischen Diskursen an eine bestimmte Perspektive funktionieren – dass es eben Menschen sind, die aus einem bestimmten „Gewordensein“ heraus Dinge so oder so denken. Ich glaube nicht an den „Tod der Autorin“, oder zumindest nicht ganz. Ich glaube, jeder von uns bringt eine eigene Perspektive mit, und ich finde es viel interessanter, diese sichtbar zu machen, als zu behaupten, es gäbe eine reine Materie, aus der heraus wir arbeiten. Natürlich gibt es die Sprache, das Material, mit dem wir arbeiten, und wir nutzen sie, um auf unterschiedliche Weisen auf die Welt zu schauen. Aber gerade die Perspektiven sind es, die mich interessieren. Ich kenne meine eigene Perspektive natürlich am besten, deshalb sind mir meine Figuren oft ähnlich, ohne mir ganz zu entsprechen.

Deine eigene Perspektive ist jene einer berufstätigen Mutter. Hat das Muttersein deine Art zu schreiben verändert?
Absolut. Das Schreiben ist eng mit meinem Alltag als Mutter verbunden. Und natürlich hat die begrenzte Zeit auch Einfluss auf meinen Schreibprozess. Ich muss viel schneller Entscheidungen treffen, als es vielleicht in anderen Kontexten üblich wäre. Für mich ist das eine totale Befreiung, weil ich oft einen sehr starken inneren Kritiker habe. Es dauert lange, bis ich Entscheidungen treffe, und ich verliere mich im Rechercheprozess und prokrastiniere. Dieses schnelle Arbeiten hat mir geholfen, den Druck rauszunehmen und einfach loszuschreiben, ohne mich ständig selbst zu zensieren. Es ist eine Art, den inneren Kritiker zu umgehen und trotzdem etwas zu schaffen.
Und dich als Mensch?
Ich glaube, dass das Muttersein an sich eine zutiefst existenzielle Veränderung ist. Dieser Moment markiert eine Grenze, ab der man nicht mehr in der alten Form weiterexistieren kann. Durch das Muttersein habe ich mich aber auch aus einer Art des Feminismus befreit, den ich als Girlboss-Feminismus bezeichnen würde. Ich habe sehr lange daran geglaubt, dass Emanzipation bedeutet Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig habe ich Care-Arbeit oft mit Abwertung betrachtet. Eine Frau, die sich „nur“ um ihr Kind kümmert, hatte in meinen Augen nicht so viel geleistet, wie eine Frau, die eine Karriere anstrebt. Bis ich selbst Mutter wurde und einfach nichts mehr so funktioniert hat, wie ich es gewohnt war. In dieser Zeit habe ich einen Perspektivwechsel vollzogen. Ich habe mich gefragt, warum mir Karriere überhaupt wichtig ist und wieso ich ein emanzipiertes Sein mit Erfolg gleichsetze. Dabei wurde mir bewusst, wie stark Feminismus in Wirklichkeit einem kapitalistischen Narrativ untergeordnet ist. Das war für mich erschreckend, denn ich habe erkannt, wie sehr ich diese patriarchalen Strukturen bereits internalisiert hatte. Ich bin froh, dass mir die Mutterschaft diese Art von Perspektive ermöglicht hat.
Irgendwo habe ich gelesen, dass für eine echte Teilhabe der Frau in der Gesellschaft zwei Dinge notwendig sind: finanzielle Unabhängigkeit und ein stabiler familiärer Rückhalt …
Leider scheint es so, dass gesellschaftliche Teilhabe nur über Erfolg funktioniert. Aber was bedeutet das für all die Menschen, die diese Voraussetzungen nicht haben? Wann werden diese Stimmen dann überhaupt noch gehört? Und bedeutet diese Aussage nicht auch, dass man die Care-Arbeit an andere Frauen abgibt, also sozusagen eine Care-Kette bildet? Es gibt Analysen, die zeigen, wie sogenannte Care-Ketten funktionieren. Dabei wird die Pflegearbeit von privilegierten Frauen an weniger privilegierte Frauen ausgelagert. Diese wiederum holen sich für ihre Kinder eine weitere noch weniger privilegierte Frau. Und so geht es immer weiter. Man kann diese Care-Ketten von uns bis in den globalen Süden zurückverfolgen. Das zeigt deutlich, dass es hier nicht um eine echte Gleichberechtigung geht, sondern vielmehr um eine Hierarchie, von der nur wenige privilegierte Menschen profitieren. Es ist eine Art Verrückung der Hierarchien, keine echte Gleichstellung.

Glaubst du, dass das Theater ein etwas privilegierter Ort ist, um solche Themen zu diskutieren?
Ja, ich glaube, dass es noch viele Veränderungen im Theater braucht. Hürden müssen abgebaut werden, Theater muss auf vielen Ebenen zugänglicher werden, aber ich glaube auch, dass das Theater Menschen miteinander ins Gespräch bringen kann und auch schon bringt. Zumindest ist das meine Erfahrung. Was mir in den letzten Jahren häufig passiert ist, ist, dass Menschen nach den Aufführungen auf mich zukamen und sagten, dass sie sich in meinen Gedanken wiedererkannt und gesehen haben. Oft sind im Anschluss daran auch Gespräche entstanden, die sehr bereichernd waren. Vor allem bei Publikumsgesprächen habe ich oft erlebt, dass sich eine Art Gemeinschaft gebildet hat und ein verbindendes Gefühl von Sichtbarkeit entstanden ist. Das war für mich eine wichtige Erfahrung.
Kannst du abschließend noch einen Einblick geben, woran du momentan arbeitest?
Gerade schreibe ich an einem Stück für das Stadttheater Ingolstadt mit dem Titel „Das Jahr ohne Sommer“. Darin geht es um das Jahr 1816, in dem ein Vulkanausbruch das Klima auf der Erde verändert und Europa in eine klimatische und politische Krise stürzt. In diesem extrem kalten Sommer hat sich eine Küsntler:innen Gruppe um Mary Shelley am Genfer See getroffen um dort zusammen zu leben und zu schreiben. Frankenstein entstand in dieser Zeit. Es geht darum wie Menschen mit Krisen umgehen, welche Kunst dabei entsteht, welche Gemeinschaften, wie man sich umeinander kümmert, oder auch nicht. Ich wollte kein historisches Drama schreiben darum habe ich die Geschichte in das Jahr 2026 verlegt, auch um es näher an meine Lebensrealität heranzuziehen. Ich freue mich schon sehr auf die Premiere im Oktober 2025.
