Sozialer Wandel MIT der Industrie, nicht gegen sie

Interview mit Kim Hou, Creative Director und Gründerin von About A Worker

25.04.2025

@ About A Worker

Was wäre, wenn Modedesign aus der Perspektive der Arbeitenden gedacht würde, wenn große Produktionen den ganzen Prozess, nicht nur den Output, Vermarktung und Verkauf mitdenken würden, wenn Nachhaltigkeit, Transparenz und faire Produktion nicht nur Marketingstrategie, sondern verinnerlichtes Konzept sein könnten. Wenn Arbeit und Handwerk nicht nur als Produktionsmittel, sondern als Subjekt und Ausdrucksmittel im Designprozess gewürdigt würde?

So oder so ähnlich fing Kim Hou, Creative Director und Gründerin von About A Worker, 2017 an, mit ihrem Abschlussprojekt an der Design Academy of Eindhoven über die Modebranche und inklusives nachhaltiges Design nachzudenken. „Meine Professor:innen meinten zuerst, das sei Bullshit, sowas würde nie funktionieren …“, erzählt sie mir. Trotzdem entwarf sie gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner und Mitbegründer Paul Boulenger den ersten Prototypen, erstellte ein Konzept und prompt explodierte das öffentliche Interesse, und ein Abschlussprojekt wurde kurzerhand zum internationalen Mode- und Designstudio About A Worker (AAW). Ein französisches Selfmade-Unternehmen, eine reisende Kreativfabrik, die mittlerweile weltweit Kollaborationen mit Arbeiter:innen, Produktionsunternehmen und Kultureinrichtungen realisiert hat, mit Marken wie Adidas, Lacoste, American Vintage und La Redoute zusammenarbeitet und nebenbei mal eben die gesamte Fashion-Industrie umkrempeln will – oder zumindest erstmal umdenken.

Die Gründer:innen Kim Hou und Paul Boulenger, © Matthieu Gauchet

Vor einem Monat habe ich mich mit der Gründerin Kim Hou getroffen, um über ihre Vision zu sprechen, was sie bewegt und motiviert, was sie bereits Bemerkenswertes geleistet haben. Kim war mit About A Worker zu diesem Zeitpunkt in Bozen, um die erste Phase des gemeinsam mit eau & gaz konzipierten Workshops Von der Rebe zum Stoff zu begleiten. Als erste von drei Phasen standen drei Hofbegehungen in Weingütern rund um Bozen auf dem Programm, gemeinsam mit den Partizipant:innen wurde die Vielfalt des Südtiroler Weinbaus erkundet. Ziel des Workshops ist es, Patchwork-Tischdecken aus gefärbten Baumwollstoffen, maßgeschneiderte Arbeitskleidung und funktionale Accessoires zu entwerfen und zu fertigen ­– inspiriert von den besonderen Anforderungen der Arbeit im Weinberg sowie den lokalen Gegebenheiten und Brauchtümern. Sozusagen die angewandte Südtiroler Version davon, was mir Kim im Gespräch als Identität und Vision von AAW erklärt ­– und sehr nah am Kernkonzept, das einst 2017 an den Start ging.

„Von der Rebe zum Stoff“ – In der ersten Woche des Workshops mit eau & gaz standen Bozner Weingüter und gefärbte Stoffe auf dem Programm, © Kim Hou

Gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Paul Boulenger entwickelte sie in jenem Jahr aus ihrer Abschlussarbeit ein innovatives Unternehmen, das industrielle Modeherstellung so umdenkt, dass die Arbeitenden im Mittelpunkt des kreativen Prozesses stehen. Als anfangs zentrale Aktivität entstanden vier Kollektionen als „Workers Collaborations“. Dabei wurden jeweils Arbeiter:innen aus vier verschiedenen geographischen und professionellen Kontexten in Workshops eingearbeitet, um gemeinsam Kollektionen zu verwirklichen, inspiriert von der Arbeitskleidung, den Geschichten, den Bedürfnissen, der Kreativität der Arbeitenden und des lokalen Kontexts. Diese ersten vier Kollaborationen entstanden mit einer Textilfabrik im Pariser Vorort Saint Denis, dem Frauengefängnis Giudecca in Venedig, dem französische Mode- und Versandhaus La Redoute in Roubaix und mit Fabrikarbeiterinnen des Industriedistrikts in Shenzhen in China.

ABOUT A WORKER X SHENZHEN/UABB, entworfen von fünf ehemaligen Sweatshop-Arbeiterinnen aus dem Stadtteil Bao'an für die Shenzhen Bi City Biennale für Urbanismus und Architektur, © About A Worker, Bobby So

Kim Hou beschreibt die anfängliche Mission von AAW als Antwort auf die Frage: „Wie kann man mit oft ungehörten Gemeinschaften kollaborieren, sie sich selbst ausdrücken lassen? Unser Ziel mit AAW ist es, Gemeinschaften wie Fabrikarbeiter:innen, Gefängnisinsass:innen, Sozialarbeiter:innen die Möglichkeit zu geben, kreative Arbeit abseits ihres Alltags zu leisten und gleichzeitig einen Teil ihrer Persönlichkeit zur Schau zu stellen, mithilfe von Design als ausdrucksstarke Sprache, die Verständnis füreinander und eine besseren Umgang miteinander bewirken kann.“ 

Dabei sieht sich Kim trotz ihres eigens verliehenen Titels „Creative Director“ mehr als Vermittlerin, Förderin, Prozessbegleiterin und nicht als Designerin im klassischen Sinn. Denn Designer genießen laut Kim ein kreatives Privileg, für das nur sie gefeiert werden. Diese, wenigen vorbehaltene Freiheit gilt es mit denen zu teilen, die eine Handwerkskunst beherrschen und die echte Geschichten zu erzählen haben. Dadurch soll Arbeit und die Funktion von Arbeit gewürdigt und neu wertgeschätzt werden, ebenso wie das Wissen und die Erfahrungen von Arbeiter:innen, die im Designprozess oft nicht mitgedacht werden. Marketing regiere heutzutage den Prozess des Modedesigns, sowohl finanziell als auch kreativ. Dabei sollten Handwerk und Qualität, Transparenz und Inklusion im Mittelpunkt der Gestaltung und Vermarktung stehen, nicht etwa Greenwashing und politische Phrasen.

ABOUT A WORKER X LA REDOUTE wurde von Arbeitern von QUAI 30, dem Logistikzentrum des Unternehmens, entworfen, © About A Worker

Die Komplementarität mit ihrem Geschäftspartner kommt dem Team und der multidisziplinären Arbeitsweise dabei sehr entgegen. Während Boulenger mehr den unternehmerischen, netzwerkbasierten, konzeptuellen Teil der Unternehmensführung übernimmt, ist Kim nach wie vor Kreativarbeiterin, arbeitet zum Beispiel visuelle Konzepte für ihre eigene Basics-Kollektion aus, kümmert sich um neue Kollaborationen, wie die mit eau & gaz, und ganz zentral um das Storytelling. 

 Denn „Design soll nicht nur schöne Objekte generieren, sondern vor allem Geschichten erzählen“.

About the authorLudwig MehlerIch lebe seit vier Jahren in Bozen und studiere Kommunikations- und Kulturwissenschaften. Mich begeistert alles, was aus ehrlicher [...] More
Was in allen Aktivitäten von AAW zählt, ist der Prozess und nicht der Outcome. Diese Philosophie ist entscheidend für ihre Arbeit und zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des noch jungen Unternehmens.
Zum einen versuchen die beiden mit About A Worker exemplarisch den Produktionsprozess von Mode neu zu denken. Überproduktion und -konsum, Umweltverschmutzung durch die Industrie und lange Transport- und Lieferwege, soziale Ungerechtigkeit durch Unterbezahlung und schlechte Arbeitsverhältnisse sind inhärente Probleme des Systems, die wir alle kennen und seit jeher erfolgreich wegignorieren. Seit ein paar Jahren betreibt AAW in Roubaix selbst eine Textilfabrik und stellt dort unter fairer Bezahlung und gerechten Arbeitsverhältnissen 3 Arbeiter:innen an, die sie durch vergangene Workers Collaborations kennengelernt haben. Ihre eigene Basic-Mode-Linie vertreiben sie von dort aus nicht nur selbst, sondern stellen sie auch anderen Designern, Produktionsfirmen und Marken als Leinwand zur Verfügung, um fair und regional produzieren zu können. Durch die lokale Produktion und regionale Zulieferer machen sie somit „zusammen mit den Arbeiter:innen ihre eigenen Regeln aus, das ist das Coole an dieser Nähe“. 
Neben der Seite des Produktionsservices hat sich die Fabrik auch auf das Upcycling von Überbeständen spezialisiert. Unternehmen und Marken können somit ihre eigenen Produkte aus eigenen Überbleibseln und Stoffresten oder mit Materialien von AAW umsetzen. Eine durch und durch inklusive Kreativstätte, mit Fokus auf regionale Gemeinschaften und Netzwerke.
Angestellte in der eigenen „Factory“ in Roubaix, Frankreich, © About A Worker

Mit ihren kreativen, künstlerischen Projekten hingegen versucht AAW durch große Kollaborationen, mit Workshops und Forschungsprojekten sozialen und politischen Wandel im Bewusstsein der Industrie und der breiten Öffentlichkeit zu bewirken – und zwar, ganz wichtig, mit und nicht gegen die Industrie. Etwas süffisant frage ich Kim darauf, ob die Zusammenarbeit mit den großen Bösewichten der Modewelt nicht etwa Greenwashing erleichtert, ob Kollaborationen mit einem maroden System nicht demselben in die Karten spielt. Doch AAW sei keine Protestbewegung, antwortet sie mir, sondern wolle effektiven Wandel generieren. Und dieser wird nun mal von innen gemacht, indem das System verstanden und herausgefordert wird. Obwohl sie sich also über die Skandale und Missstände großer Partner bewusst sind, wollen sie die gesamte Landschaft zum Besseren wenden, und dazu müsse gemeinsam, nicht gegeneinander verändert werden.

Textile Murals für die Olympischen Spiele 2024 in Paris: Die mit Athlet:innen entworfenen Werke waren im Eingangsbereich des Ladoumegue-Stadions in Paris zu sehen. © Fred Mauviel

Ihre Workshops laden die Öffentlichkeit oft in Zusammenarbeit mit Marken und Produzent:innen dazu ein, selbst Hand anzulegen, eigene Ideen einzubringen, Stoffreste und Überbestände aufzuwerten. Für Forschungsprojekte arbeitet About A Worker mit Kultureinrichtungen und Universitäten zusammen, beispielsweise untersuchten sie lokale Textilproduktionsstätten für das französische Kulturministerium. Auch große Institutionen wie die Olympischen Spiele 2024 suchen ihre Expertise, um die Vision von inklusivem Design in ihrer Kommunikation zu implementieren. Die Möglichkeiten, die Design-Industrie und ihre Produktionsketten sozialer und transparenter zu gestalten, sind laut Kim unendlich …

Alle Hände voll zu tun beim Workshop „Made by Locals“ von About A Worker mit Mondes Nouveaux, einem von der französischen Regierung geförderten Ausschreibungswettbewerb, © Maëlle Bisson

Auch geographisch muss in Zukunft weiter vor der eigenen Tür gekehrt werden. Auch wenn Kim gerne gleich in China oder Bangladesch anpacken würde, ist das Aussterben von Fabriken und traditionellem Handwerk ein heimisches Problem. Besonders der Nachhaltigkeitsaspekt werde deswegen ihren Fokus vorerst auf lokale Probleme lenken, obwohl ihr das nationale Denken eigentlich immer zu patriotisch gewesen sei. In allen Tätigkeiten müsse aber grundsätzlich immer zwischen patriotischen und neokolonialistischen Anwandlungen abgewogen werden. Folglich sind die Projekte immer sehr auf den Ort und den lokalen Kontext fokussiert – und mal mehr und mal weniger politisch motiviert.

Der wichtigste nächste Schritt bleibe nach dem populären Thema Nachhaltigkeit sozialer und politischer Wandel und der muss überall gemacht werden – zuhause sowie in Asien oder Amerika. Arbeit und Arbeiter:innen sollen wieder geschätzt und ihre Geschichten gehört werden. Vergessene Handwerke und unterbezahlte Jobs müssen gewürdigt werden, damit Inklusion und nachhaltige regionale Produktionen wieder an Wert gewinnen. Und das stärkste Instrument bleibt die Kraft des Designs, besonders sein Vermögen, Geschichten zu erzählen und diese mit Bedeutung in Produkte umzusetzen ­– ganz gleich ob diese nun materiell sind oder ihren Ausdruck im Prozess finden. 
Denn About A Worker ist eben auch About a workplace, About the communities und About the process

Wer mehr über Kim, Paul und About A Worker herausfinden will, hat am Dienstag, 20. Mai 2025 um 19:00 Uhr beim 15. Moontalk in der Luna Bar des Mondschein in Bozen die Chance dazu. Im Talk auf Englisch mit Eco-Social Designerin Adele Buffa erzählen die beiden von ihrem inklusiven Designansatz und ihrer prozessorientierten Kreativarbeit und wie sie diese nach Südtirol gebracht haben. Wir sehen uns dort ...

SHARE
//