Kleiner Verräter

Ein kurzer Blick in die Geschichte des Reiseführers

17.02.2025
Kleiner Verräter

Reiseführer aus dem Jahr 1898 © Privatbesitz Familie Reso

Es ist wieder diese Zeit. Wenn der Winter beinahe überstanden ist und die Tage endlich wieder länger werden, überkommt mich ein altbekanntes Gefühl: ein unsägliches Fernweh, eine tiefe Sehnsucht, den grauen Alltag abzuschütteln und Neues zu entdecken, Farben, Gerüche und Geräusche fremder Orte in mich aufzusaugen. Fast ritualhaft ziehe ich in dieser Zeit ganz bestimmte Bücher aus dem Regal: Reiseführer, die ich mir für Reisen besorgt habe, die dann aber nie stattfanden – gescheitert an Zeit, Geld oder einfach am Leben selbst. Ich beginne von vorn, plane neue Routen und Touren, lese jeden Hinweis, schaue mir zu jedem unbekannten Fleckchen Fotos an, bis ich alles weiß über mein Traumziel und es mir am Ende beinahe so vorkommt, als sei ich bereits dort gewesen.

About the authorEvelyn ResoIch bin freie Kulturwissenschaftlerin, Ausstellungskuratorin und Autorin und liebe es, Menschen mit gehaltvollen und spannenden Inhalten zu berühren [...] More
Gerade in dieser Zeit des fortgeschrittenen Reisefiebers drückt mir meine Oma einen Reiseführer in die Hand, in dem ich nun blättere. Er nimmt mich wieder mit auf Entdeckungstour, doch ist es in diesem Fall nicht das Ziel, das mich an einen anderen Ort reisen lässt: „Tirol“, das kenn ich schon. Doch dieser Reiseführer erlaubt mir eine Reise ins Tirol des fernen Jahres 1898. Erstaunlicherweise unterscheidet sich Griebens Reisebuch aus dem Jahr, in dem Kaiserin Elisabeth ermordet wurde, gar nicht allzu sehr von meinen Lonely Planets. Es enthält detaillierte Informationen zu Orten, Sehenswürdigkeiten, Unterkünften und Verkehrsverbindungen und ich entdecke sogar die eine oder andere Fotografie. So, wie der Lonely Planet seine blauen Sternchen an besondere Orte vergibt, versah auch Grieben „besonders hervorzuhebende Sehenswürdigkeiten“ mit einem Stern (*). Die Ähnlichkeit der beiden Bücher kommt nicht von Ungefähr. Diese Art, Reiseziele zu beschreiben, unterliegt einem bürgerlich geprägten Wertesystem des Reisens, das seit der Entstehung der ersten Reiseführer die Verhaltensweisen von Touristinnen und Touristen prägte. Die ersten Reiseführer entstanden nämlich im Laufe des 19. Jahrhunderts, als sich mit dem Ausbau der Eisenbahnlinien immer mehr Menschen das Reisen leisten konnten. Sie lösten die zuvor beliebten Reisebeschreibungen ab, in denen adelige Reisende in ausführlicher Form ihre Erfahrungen niedergeschrieben hatten. Diese „endlose literarische Steppenwanderungen“, wie es Arthur Michelis in seiner „Reiseschule“ von 1869 ausdrückte, wollte man den bürgerlichen Reisenden nicht zumuten, denn sie verfügten über viel weniger Zeit und finanzielle Mittel als der Adel. Die Texte wurden also kürzer, sachlicher und mit Plänen, Karten und Zeichnungen ergänzt. Die romantische Beschreibung einer vollendeten Reise wich der nüchternen Information möglicher Ziele und Routen. Bei ihren klar gegliederten Informationen zu Reiserouten, Sehenswürdigkeiten, Straßenzuständen, Unterkünften, Entfernungen und Preisangaben beriefen sich die neuen Reiseführer auf wissenschaftliche Recherche und waren stets darauf bedacht, diese durch Neuauflagen aktuell zu halten.
Reiseführer aus dem Jahr 1898 © Privatbesitz Familie Reso

Was bei der Betrachtung von Griebens Reiseführer sogleich auffällt, ist seine enge Verknüpfung mit dem Verkehrsmittel der Eisenbahn. Die einzelnen Kapitel, z. B. „Von Innsbruck über den Brenner nach Bozen“, folgen den bestehenden Eisenbahnlinien und geben zuallererst Auskunft über die jeweiligen Zugverbindungen. Darauf folgt eine Empfehlung dazu, auf welche Seite des Waggons man sich am besten setzt, um keine Highlights entlang der Bahnstrecke zu verpassen: „bis zur Brennerhöhe rechts, dann meinst links“. Aus der Sichtweise Bahnreisender beschreibt der Führer dann genau, wann ein Tunnel, eine Brücke oder eine größere Steigung bevorsteht und was beim Blick aus dem Zugfenster gerade zu sehen ist. Ja, sogar ganz „geheime“ Insidertipps verrät der Grieben und empfiehlt den Reisenden, bei der Station Schelleberg den Zug zu verlassen und zu Fuß in das 178 Meter tiefer gelegene Gossensass abzusteigen. Da dies in etwa 10 bis 15 Minuten in Anspruch nahm, der Zug aber eine große Schleife ins Tal fuhr und dafür genau 26 Minuten benötigte, konnten die Reisenden sogar noch beim Hotel Gröbner ein „Krüglein Bier“ trinken, bevor sie wieder in den Zug stiegen, um weiterzufahren.

Das Tatam-Tatam der Zuggleise hallt in meinen Ohren nach und ein leichter Biergeschmack haftet mir noch auf der Zunge, als ich mich endlich losreißen kann von dem 127 Jahre alten Büchlein. Nun frage ich mich, wie wir wohl reisen würden, hätte nicht jemand schon vor uns alles entdeckt und bewertet, wüssten wir nicht bereits vorher, was uns genau erwarten und wie dort alles aussehen wird, in dieser bereits vertrauten Fremde. Vielleicht würden wir dann ganz andere Ziele ansteuern und dabei tatsächlich Neues entdecken. Vielleicht verzichte ich für mein nächstes Abenteuer auf die vorbereitende Lektüre und lasse mich einfach überraschen.

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