Ordnung ist das halbe Leben

Die Ordner – Teil 1

03.02.2025
Ordnung ist das halbe Leben

Ordner des Posthotel zum Ortler in Sulden © Nachlass der Familie Angerer, Sulden

In diesen Tagen ist ein Schatz bei mir eingetroffen. Den begutachte ich jetzt und denke darüber nach, was für ein Glück es doch ist, dass Marie Kondo erst jetzt und nicht bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts weltweit für Ordnung sorgte. Hätte sich damals bereits die heute so beliebte KonMari-Methode durchgesetzt, gäbe es jetzt wohl keinen Schatz zu bewundern. Denn die berühmte Aufräumexpertin hasst Zettelwirtschaft. Dementsprechend rät Kondo allen, die ihr Leben erleichtern wollen, hart gegen jeglichen Papierkram in den eigenen vier Wänden vorzugehen. Verschont bleiben nur jene papierenen Platzverschwender, die noch bearbeitet werden müssen. So sehr ich Marie Kondos Faltmethode auch schätze – dies ist für mich eine schier schreckliche Vorstellung. Denn ich liebe alten Papierkram. Ich liebe seine bröckelige Konsistenz, seinen modrigen Geruch und vor allem die vielen verborgenen Geschichten, die in seinem Inneren schlummern. Und so blättere ich nun genüsslich durch die drei dicken Aktenordner voller Briefe und Dokumente, die ein freundlicher Herr aus Sulden bei mir abgegeben hat.

Dieser Schatz ist kein Zufallsfund, denn der Suldner Herr ist einer jener Menschen, die sehr viel ihrer Zeit in die Aufarbeitung der Vergangenheit stecken – einerseits, um mehr über die eigene Familiengeschichte zu erfahren, andererseits aber auch, um der Öffentlichkeit Einblick in einen kleinen Teil der Vergangenheit zu ermöglichen. So ist es auch nicht das erste Mal, dass mir Franz Angerer, Nachfahre des gleichnamigen Besitzers des Posthotel zum Ortler in Sulden und k. u. k. Postmeister, Franz Angerer (1880–1946), einen solchen Einblick ermöglicht. Bereits vor einigen Jahren durfte ich die Briefe der späteren Ehefrau des Postmeisters, Franziska Aschberger, genau unter die Lupe nehmen und dabei jede Menge über den Lebens- und Arbeitsalltag in den großen Tiroler Sommerfrischehotels der Jahrhundertwende erfahren. Ungleich der meisten Familien, die sich – wahrscheinlich aus Platzgründen – irgendwann im Laufe der Zeit ihrer papierenen Familienvergangenheit entledigt haben, hat die Familie Angerer einen großen Teil ihrer Geschichte aufbewahrt. Dabei stellte sich heraus, dass im Suldner Dachboden ein äußerst papierfreundliches Klima herrscht.

Ordner des Posthotel zum Ortler in Sulden © Nachlass der Familie Angerer, Sulden
About the authorEvelyn ResoIch bin freie Kulturwissenschaftlerin, Ausstellungskuratorin und Autorin und liebe es, Menschen mit gehaltvollen und spannenden Inhalten zu berühren [...] More
Nun hat mir Herr Angerer die drei dicken Aktenordner aus dem Nachlass seines Großvaters vorübergehend überlassen. Wie Franziska Aschbergers Briefe sollen auch sie später ins Südtiroler Landesarchiv übergehen. Die Ordner stammen aus den Jahren 1906 bis 1908. In zwei „Soennecken’s Briefordnern“ und einem „Shannon Registrator“ hat der damalige Besitzer des Posthotel zum Ortler in Sulden alle eingegangenen Dokumente alphabetisch abgelegt – von privaten Briefen über Werbeschreiben bis hin zu Gebrauchsanweisungen, Rechnungen, Verträgen, Frachtkarten und vielem mehr. Diese Art, Akten abzulegen, war zu jener Zeit noch relativ neu und steht im Zusammenhang mit einer zunehmenden Bürokratisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Der Hersteller von zweien der vorliegenden Ordner, Friedrich Soennecken, war auch der Erfinder des ersten Aktenordners, den er im Jahr 1886 erstmals auf den Markt brachte. Praktischer Weise erfand er dazu gleich auch noch den Locher, der es möglich machte, den Papierkram an die eiserne Halterung im Ordnerinneren zu heften. Die Einführung des Aktenordners revolutionierte aber nicht nur die Handhabung des Papierkrams, sondern war auch ein Schlüsselelement für die Entstehung moderner Bürostrukturen. Größe und Form von Schreibtischen, Aktenschränken und Regalen wurden von nun an so gestaltet, dass sie ein effizientes Lagern von Dokumenten ermöglichten. Darauf verweist auch eine Werbung für „Moderne Bureau-Einrichtung mit Schwanhäusser’s Artikeln“ auf den alphabetischen Trennblättern in Angerers Shannon-Registrator. Die Standardisierung von Papiergrößen erfolgte allerdings erst später, sodass sich in den Ordnern des Suldner Hoteliers alle möglichen Papierformate finden.

Beim ersten Durchblättern fallen mir sogleich die prachtvoll gestalteten Briefköpfe auf und die schwungvolle Handschrift der Absender*innen. Ein Weilchen dauert es, bis ich mich wieder an die Kurrentschrift gewöhnt habe, aber dann rieseln schon die ersten Inhalte auf mich ein. Jedes beschriebene Blatt Papier erzählt eine Geschichte, die nur darauf wartet, erforscht zu werden. So stoße ich zum Beispiel auf interessante Details zum Thema Ernährung im Hotel. Zahlreiche Werbeblätter, Rechnungen und Versandbestätigungen für Lebensmittel verraten, was im Posthotel zur Jahrhundertwende auf den Tisch kam und woher es stammte: von „unbegrenzt haltbarer“ Trockenmilch aus der „Spezerei und Kolonialwaren-Handlung Amort“ in Meran, über Bier aus der „Dampfbrauerei Vilpian der Gebrüder Schwarz“, bis hin zu Eingelegtem aus der Bozner „Aktien-Gesellschaft für Bereitung conservierter Früchte und Gemüse“, Piccolo Bretzeln aus der „Wiener Appetit Bretzel-Fabrik“ oder Franz Mervarts „Original böhmischem Saft- und Kurschinken“.

Das vorbildliche Ablegen im alphabetisch geordneten Registrator war allerdings kein Garant für zeitnahe Bearbeitung, wovon einige Mahnungen von Seiten der Lebensmittelhersteller zeugen. Ich schmunzle und blättere weiter durch die fein säuberlich gelochten Botschaften aus der Vergangenheit, bis ich auf etwas stoße, das meine Aufmerksamkeit weckt … to be continued …

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