Fritzens Pilze

Schuhkartons erhalten oft ein zweites Leben. Sie dienen nicht selten dazu, weit wertvollere Dinge als bloße Modeaccessoires aufzubewahren ...

16.12.2024
Fritzens Pilze

Überbleibsel aus dem Haus von Friedrich Kaneider, © Stadtarchiv Meran

Vor mir liegt heute nichts Besonderes: ein ganz normaler weißer Schuhkarton. Auffällig ist nur die ungewöhnliche Aufschrift auf seinem Deckel. „Passer Fritz Briefe“ steht dort in grauen Buchstaben aus Sand. Ich öffne den Karton und sofort stößt mir eindringlicher Schlammgeruch entgegen, vermischt mit dem Aroma modrigen Papiers. Ich greife hinein und ziehe vorsichtig einen Brief heraus, dann einen weiteren und einen weiteren. Bald überzieht eine glitzernde Schicht aus Sand meine Fingerspitzen. Sie klebt auch an halb verblassten Farbfotos, die zwischen den zerknitterten Papierseiten stecken. Zu sehen ist auf fast allen Bildern dasselbe: Pilze. Steinpilze, um genau zu sein. Steinpilze, die in erstaunlichen Mengen aus dem Boden wachsen, Steinpilze, die in einem Blumenkasten sprießen, Steinpilze in einer Holzkiste neben einer Schachtel „Biohumus“, Steinpilze im Kübel – flankiert von einem Schäferhund, Steinpilze im Kochtopf mit einem Schild aus Pappkarton. „Steinpize nur 5000 Lire“ ist darauf zu lesen. Ich sehe mir die Rückseite der Fotos an und finde eine einzige Beschriftung: „Steinpilze gezüchtet mit Symbiose. Ersatzmaterie. Meine Entdeckung.“

Überbleibsel aus dem Haus von Friedrich Kaneider, © Stadtarchiv Meran

Schuhkartons erhalten oft ein zweites Leben. Sie dienen nicht selten dazu, weit wertvollere Dinge als bloße Modeaccessoires aufzubewahren. Wir legen in sie Gegenstände, die für uns einen hohen emotionalen Wert haben – persönliche Fotos, Briefe oder Tagebücher – und machen sie so zu Hütern unserer Erinnerungen. Ähnlich verhält es sich mit dem vor mir liegenden Schuhkarton. Doch in diesem Fall war es nicht der Besitzer der Fotos und Briefe selbst, der diese zur Erinnerung hier verwahrt hat.

Die Rede ist von dem in Meran allerseits bekannten Passer Fritz, mit bürgerlichem Namen Friedrich Kaneider – ein Freigeist, der über Jahrzehnte hinweg gemeinsam mit seiner Frau eine Hütte in der Au an der Passer bewohnte. Die Gegenstände im Schuhkarton erinnern an seine kreative und erfinderische Ader. Tatsächlich gelang es ihm in den 1980er Jahren, in seinem Garten in der Au Steinpilze zu züchten. Sowohl die Fotos als auch die Briefe im Karton zeugen von der Begeisterung und dem Stolz, mit denen er sein Experiment betrieb. Er nahm Kontakt zu mikrobiologischen Instituten in Italien, Frankreich, Österreich und Deutschland auf und schickte Sporen zur Untersuchung an das Laboratorio Chimico in Trient. Um seine Entdeckung publik zu machen, schrieb er an diverse Zeitschriften. Mindestens eine davon weigerte sich jedoch, darüber zu berichten, solange er nicht preisgab, wie ihm dies gelungen war. Er versuchte sogar, seine Erfindung patentieren zu lassen, gab dieses Vorhaben jedoch im Jahr 1989 wieder auf, nachdem er fünf Jahre lang auf eine Antwort aus Rom gewartet hatte.

Überbleibsel aus dem Haus von Friedrich Kaneider, © Stadtarchiv Meran

1997 starb Fritz Kaneider im Alter von 88 Jahren, doch bis heute lebt der Passer Fritz in der kollektiven Erinnerung der Meranerinnen und Meraner weiter. Als seine Habseligkeiten geräumt und seine Hütte in der heutigen Naherholungszone abgerissen wurden, blieben viele persönliche Gegenstände verstreut im Schlamm der Passer zurück. Dieser Anblick war für eine junge Meranerin unerträglich. Wie für so viele war Passer Fritz ein Teil ihrer Kindheitserinnerungen an unzählige Ausflüge in die nahegelegene Natur. Sie sammelte die verstreuten Dinge ein und packte sie in diesen Schuhkarton, der ihr kürzlich wieder in die Hände fiel. Nun wird der Karton dem Meraner Stadtarchiv übergeben und fügt so ein weiteres kleines Puzzleteil zur Geschichte der Kurstadt hinzu.

Überbleibsel aus dem Haus von Friedrich Kaneider, © Stadtarchiv Meran

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