Das Buch der Weltenbummlerin

02.12.2024

Screenshot: The American Woman Abroad by Blanche McManus, The woman and the car © Blanche McManus

Das Schöne an der kulturhistorischen Forschung im digitalen Zeitalter ist, dass man Zugang zu Objekten hat, die geografisch nur schwer erreichbar sind oder die in ihrer physischen Form gar nicht mehr existieren. Unverhofft stößt man oft auf Archivmaterialien und kulturelle Artefakte, die man wohl nie entdeckt hätte, wäre ihnen nicht jenseits ihrer Materie ein zweites Leben eingehaucht worden.

So erging es mir mit einem Buch, auf das ich im Zuge einer Ausstellungsrecherche aufmerksam wurde. Bei meinem Surf-Tripp durch den Cyberspace stieß ich auf die digitalisierte Ausführung des Buchs „The American Woman Abroad“ von der amerikanischen Schriftstellerin und Illustratorin Blanche McManus (1870–1935). Als begeisterte Weltenbummlerin schrieb McManus 1911 in diesem erstaunlichen Reiseführer nützliches Wissen nieder, das alleinreisende Amerikanerinnen auf ihre Fahrt durch Europa vorbereiten sollte. So finden sich auf über 500 Seiten Details zu Reisekosten, gesetzlichen Grundlagen und Umgangsformen, Trinkgeld- und Bekleidungstipps sowie Hotelempfehlungen und Städteportraits.

Ein ganzes Kapitel widmete die Schriftstellerin aus Lousiana dem Reisen im Automobil. Darin sah McManus die idealste Reiseform für Frauen, da sie neben dem Chauffeur keiner weiteren männlichen Begleitung bedurfte und es doch ermöglichte, Land und Leuten nahe zu kommen. Gleichzeitig ließ die Fahrt im Automobil hohe Entscheidungsfreiheit und Unabhängigkeit von den Fahrplänen der Postkutschen und Eisenbahnen zu. Ganz nebenbei bot diese Reiseform auch allen erdenklichen Komfort: Das Dienstmädchen konnte auf dem Beifahrersitz mitreisen. Für reichlich Gepäck mit vornehmer Garderobe, die der Aufenthalt in einem europäischen Grandhotel verlangte, war im Auto genug Platz. Zur Ausstattung des Wagens gehörten ein Teekorb mit Thermosflasche, eine Leselampe sowie ein ausklappbarer Tisch, und bei Bedarf konnte für den Schmuck der reisenden Dame ein kleiner Tresor unter dem Sitz eingebaut werden.

Screenshots: The American Woman Abroad by Blanche McManus © Blanche McManus

Hohen Komfort boten auch die guten Straßenverhältnisse und Beschilderungen in Europa, die unter den amerikanischen Automobilreisenden zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Beliebtheit fanden. In den kurvigen Passstraßen der Alpen entdeckten sie ihre Traumpfade. Aus diesem Grund war Tirol ein besonders beliebtes Ziel für Reisende aus Übersee.

„Automobiling in the mountain region of Tyrol presents a combination of delights which is unusual. There are good roads, imposing mountain peaks on all sides, thrilling hair-pin turns on the roads over the passes and a primitiveness of countryside sights and scenes which is in strong contrast to the modernity with which one comes up at night in their hotel at Innsbruck and many other stopping places, which are frankly tourist resorts and nothing else, so far as catering to the stranger goes“, schrieb McManus und hinterließ uns damit einen seltenen frühen weiblichen Blick auf unsere Region. Welches Ausmaß der motorisierte Verkehr über die Alpenpässe in den nächsten 100 Jahren annehmen und welche Nebenwirkungen er für Natur und Bevölkerung mit sich bringen würde, konnte McManus, die das Automobil in erster Linie als Vehikel weiblicher Emanzipation betrachtete, damals noch nicht erahnen. Die Gründe für die Faszination an der Befahrung der Passstraßen, die sie auf die Kombination aus Naturerlebnis, motorsportlicher Herausforderung und komfortablen Unterkünften zurückführte, haben ihre Gültigkeit dabei wohl bis heute nicht verloren.

Screenshot: The American Woman Abroad by Blanche McManus © Blanche McManus

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